Mittwoch, 22. Juli 2009

Dschungel

Titel: Dschungel
Autor: callisto24


Die Welt ist ein Dschungel. Ella betete diesen Satz vor sich hin. Jeder Schritt bot eine mögliche Gefahr, jede Bewegung zog unauslöschliche Konsequenzen nach sich.
Unabhängig davon, ob sie sich inmitten des Regenwaldes, umgeben von giftigen Pflanzen und Getier, oder im heißen Wüstensand befand, auf der verzweifelten Suche nach Wasser oder Nahrung – jeder Schritt konnte ihr Ende bedeuten. Oder Schlimmeres.

Der vielzitierte Schmetterling der Chaostheorie bezeichnete nur eine der Möglichkeiten, die Erklärung bot für Zusammenhänge, die weitaus komplexer waren, als der menschliche Verstand es zu begreifen vermochte.

Die Sache um die es ihr ging war weitaus persönlicher, zog vielleicht nur kleine, äußerst private Kreise, und dehnte sich doch über Länder und Kontinente hinweg aus, suchte neue Wege der Verbindung, knüpfte Bänder, die von zukünftiger Bedeutung sein konnten.
Und doch fürchtete sie gerade diese Bänder, fürchtete die Möglichkeit, dass eines von ihnen sie aus dem Dschungel, den sie ihr Leben nannte, weiterführte in denjenigen, welcher der Bedeutung des Wortes entsprach. In den Dschungel, der ihr gänzlich fremd war, eine unbekannte und furchteinflößende Welt, erfüllt von Wesen, die Gefahr darstellten, die einem Menschen wie ihr, der nie gelernt hatte auf sich selbst zu achten, unendlichen Schrecken einflößten.

Sie hatte ihn gesehen, in Filmen und auf Bildern. Sie hatte darüber gelesen, und wusste sehr gut, dass die Ängste mit denen sie in ihrer beschützten Welt zu kämpfen hatte, nichts darstellten im Vergleich zu den Gefahren, die in der Wildnis, die dort allen Widerständen zum Trotze noch existierte, lauerten.

Die Nähe zum Äquator alleine, die unerträglichen Temperaturen, die schlummernden Krankheiten erhöhten ihre Besorgnis nicht mehr, als die dort stattfindenden Kriege es konnten. Doch dies lag in erster Linie daran, dass ihre Besorgnis sich unmöglich noch steigern ließ.

Vor allem jetzt, wo sie Klarheit gewonnen hatte, vor allem jetzt, wo sie wusste, wer er war, woher er kam, und nur ahnen konnte, wohin er wollte.
Ella hatte darauf bestanden. Sie musste sicher sein, ob das Kind von ihm war. Sie brauchte den Beweis schwarz auf weiß, in ihren Händen.
Und so machte sie den Test, schickte die Proben ein, wartete das Ergebnis ab.
Und nun kannte sie die Wurzeln ihres Kindes. Doch inwieweit diese Wurzeln das Leben, die Zukunft, das Schicksal dieses Kindes bestimmen sollten, wusste sie nicht.
Lediglich, dass sich mit dem Ergebnis Möglichkeiten eröffnet hatten, an die sie nicht zu denken wagte.
Denn auch in diesem Leben, in der Welt, in der sie und ihr Kind ausharrten, mussten sie kämpfen. Vielleicht nicht mit der Machete, vielleicht nicht mit Messern und Waffen, jedoch mit allen Kräften, die ihr zur Verfügung standen.
Und sie kämpften, ihr Sohn kämpfte. Er kämpfte in der Schule, in der Freizeit, innerhalb der Grenzen, die ihn ausmachten und darüber hinaus.

Unvorstellbar einen weiteren Dschungel dazu zu addieren. Den Dschungel des fernen Kontinents, in dem seine Vorfahren darauf warteten, ihn andere Wege lehren zu dürfen, als die längst eingeschlagenen. Obwohl diese eingeschlagenen Wege zwangsläufig in die Irre führen mussten, obwohl Ella sich sicher war, dass auch ihre eigene Welt mit ihren Zielen, den Mechanismen dieses Systems nicht weiter existieren konnte, so wusste sie doch zugleich, dass ihr Sohn nicht bereit war, einen fremden, einen abweichenden Pfad auch nur in Erwägung zu ziehen.

Auch wenn sie selbst auf eine seltsame und unwirkliche Art die Weisheit aus der Ferne lockte, so blieb doch das Risiko zu groß, zu unüberschaubar, als dass sie sich selbst oder ihr Kind wissentlich diesem aussetzen würde.

Und dann gab es da noch den anderen Dschungel, den im Nachbarland, und die verschlungenen, verbotenen Schritte, die in dieses oder aus demselben heraus führten.
Ein Dschungel aus Papier und Bürokratie, nicht minder gefährlich als jeder andere.
Ein Dschungel, dessen Gefahren sich weniger offensichtlich, doch umso weitreichender auswirkten, gerade weil sie sich von ihrer Warte aus nicht im Geringsten abschätzen ließen.
Papiere wurden zum Problem, wenn man sie nicht besaß. Und er besaß sie nicht. Er lebte illegal im Nachbarland. Nachdem er vor den Gefahren, der Armut, dem Dschungel am Äquator geflohen war, versteckte er sich dort, kämpfte seinen eigenen Kampf im Verborgenen.
Sich in das Chaos der Behörden zu begeben glich einer Expedition in unbekannte Gefilde, umso mehr, als die drohenden Folgen der Ausweisung oder schwererer Strafen nicht abzusehen waren.

Blieb für sie das Wagnis, sich auf den bloßen Verdacht hin, dass es ihr hülfe, oder ihrem Kind, oder sogar ihm – dem Vater - auf die Reise zu begeben. Und sie hatte dies wahrhaftig nicht vor. Sich oder ihr Kind einem Risiko auszusetzen widersprach allem wonach sie lebte.

In dem Dschungel ihrer eigenen, vertrauten Welt fand sie sich auch nach Jahrzehnten nicht zurecht. Wie sollte sie es dann in einem anderen schaffen? In einem Dschungel, der Gefahren barg, die sich auszumalen, sie nicht wagte.

Ella sah auf. Ihr Blick richtete sich auf den Horizont.
Doch vielleicht lag darin, und genau darin auch ihr Problem. Sie wusste es nicht. Sie kannte die Gefahren nicht, konnte sie sich nicht vorstellen, nicht einmal schemenhaft umreißen.
Gefahren, die vielleicht nur in ihren eigenen Gedanken existierten, die nicht wirklich waren, nicht so aussahen, wie ihr Verstand es ihr weismachen wollte.

Denn lebten nicht andere Menschen in diesen Dschungeln? Menschen, die sich dort auskannten, denen es gutging, denen es gelang sich durchzukämpfen, denen es gelang unter Bedingungen zu leben, an die sie und ihr verwöhnter Verstand nicht denken wollten.

Natürlich könnte sie es. Natürlich könnten sie es.
Auch sie wäre in der Lage dazu, inmitten einer Kriegszone zu leben. Ihre Großeltern hatten dieses überstanden, ihre Eltern die Nachwehen von Zerstörung und unvorstellbarer Grausamkeit überlebt. Der gefährlichste Dschungel war immer noch der vom Menschen geschaffene.
Sie könnte es, inmitten der Gefahr existieren, kämpfen, so wie sie in der Luxus-Gesellschaft um ihr Überleben kämpfte.
Hier wie dort gab es Strudel, denen man nicht mehr entrinnen konnte, die einen unweigerlich in die Tiefe zogen.
Hier wie dort wusste niemand von ihnen vorherzusagen, wie viel Zeit auf dieser Welt einem Menschen beschieden war, geschweige denn, wie diese Zeit aussähe.

Und wenn sie zwischen Waffen und Seuchen leben konnte, dann auch in einem Land, in dem Sprache, Sitten und Gebräuche von den ihren abwichen, in denen alles fremdartig erschien, wenn auch weniger fremdartig, als die Äquatornähe anmutete.

Ella richtete sich auf. Dies musste der erste Schritt sein. Zu wissen, dass sie dazu in der Lage war, dass sie ihren Weg auch durch Gewirr, über Hindernisse und Barrieren hinweg machen werde, öffnete ihr die Welt.
Sie konnte es, sich frei entscheiden. Sie konnte sich durch jeden Dschungel kämpfen. Für ihren Sohn und für sich. Ob alleine oder in Gemeinschaft, sie würde kämpfen, solange bis ihr Lebenszweck erfüllt war, bis sie erkannte, aus welchem Grunde diese Welt ihr so schwer fiel, aus welchem Grunde der Weg für sie so lang, zu unübersichtlich, so erschreckend aussah, wo er sich doch verlockend, einladend und voller Hoffnung vor ihr ausbreiten sollte.

Vielleicht lag der Grund darin, dass sie dann diesen Weg nicht gegangen wäre, dass ihr Leben gerade in diesem Augenblick eine andere Hürde nähme und die Bedeutung ihrer selbst eine unwirkliche und ihrer Seele nicht entsprechende Schleife wände.

Vielleicht lag der Grund auch nur einfach daran, dass Ella Ella war, eine Frau, die sich ihren Weg bahnte durch unerforschte Gebiete, die zu wenig Bindung an ihre Gesellschaft, ihre Familie, ihre Zeit oder an die Menschen verspürte, als dass sie dem geraden, dem einfachen, dem vorgeschriebenen Pfad folgte.

Ella erhob sich. Der Dschungel jagte ihr keine Angst mehr ein. Sie würde es nicht zulassen, nicht erlauben, dass ein Wort, eine Vorstellung sie und ihren Sohn von der Wirklichkeit und von dem, was das Leben ausmachte, trennte.

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