Donnerstag, 30. Juli 2009

König

Titel: König
Autor: callisto24
Genre: Märchen
* * *


Der Thronsaal quoll über vor reich geschmückten Gästen. Sie alle hatten weder Kosten noch Mühen gescheut, um sich in ihrem besten Lichte zu präsentieren.
Schließlich handelte es sich um eines der wichtigsten Ereignisse ihrer Zeit: um die Krönung ihres neuen Königs.

Das Land trug an einem schweren Erbe. Kriege und Krankheiten hatten an seinen Kräften gezehrt, die letzten Reserven aufgebraucht.
Auch der alte König, ein weiser und gütiger Herrscher, war der Seuche zum Opfer gefallen.
Und doch hatte es den Göttern gefallen, mit seinem Tode einen Wandel einzuleiten. Als könnten sie von diesem Augenblick an Schlimmeres nicht mehr vollbringen, als hätten sie mit diesem letzten Verlust auch jeden Trumpf ausgespielt, jede Strafe verhängt, jede Rache ausgekostet.

Als wüssten sie, dass ein Land wie dieses nicht noch mehr ertragen könne, unabhängig davon, wie sehr die Bewohner diesen Schrecken verdient, das Unheil herbeigerufen hatten.
Doch wollen wir hier nicht von Sünden und Verfehlungen allzu menschlicher Natur sprechen, von der Gier nach mehr, von den Prioritäten, die jedermann sich zu setzen bequemt, sobald die Zeiten schlecht werden. Auch nicht von jenen gerade in diesen vergangenen Jahren gesetzten Prioritäten, die allesamt lediglich dem Zwecke des Eigennutzes huldigten.

Nein, dieses Kapitel war abgeschlossen.

Richten wir unsere Augen auf die Zukunft, auf den Hoffnungsträger dieser Tage, auf den jungen König, dem es bestimmt war, ein neues, ein besseres Zeitalter einzuläuten.

Dass ihm dieses gelingen sollte, stand außer Frage. Davon sprachen allein sein königlicher Wuchs, die aufrechte Haltung und der Blick, der stets nach vorne gerichtet, eine bessere Welt bereits zu sehen schien. Es galt nun nur noch, eine solche aufzubauen, und Jeremias war bereit und willens sich einer Aufgabe wie dieser zu stellen.

Fanfaren ertönten. In reichhaltigen Samt und in aufwendige Seide gekleidete Damen adeliger Herkunft sanken in die Knie. Würdenträger, Hofangestellte und weit gereiste Vertreter der unterschiedlichen Gefilde, die das Land innerhalb seiner Grenzen vereinte, neigten respektvoll ihre Köpfe, als er eintrat.

Ein verhaltenes Lächeln auf den Lippen, sich seiner Verantwortung ebenso bewusst wie der Feierlichkeit des Augenblicks, schritt Jeremias an den Reihen der Menschen vorüber, hob niemanden durch einen Blick hervor, schloss zugleich niemanden aus.

Ein Teil seines Zaubers, seiner Beliebtheit im Volk, bestand in der Ausschließlichkeit, mit der er sich jedem Gegenüber, unabhängig davon welchem Stande dieses angehörte und welcher Grund seinem Auftauchen zugrunde lag, widmete.
Obwohl noch nicht in Amt und Würden hatten ihm sein Charme und seine Freundlichkeit bereits die Herzen aller gewonnen.

Schwarze Locken fielen ihm in die Stirn und Jeremias strich sie in einer unbedachten Bewegung und ungemäß des strengen Protokolls aus den Augen, eine Geste, die ob ihrer Unschuld dem einen oder anderen der Gäste je nach seiner Natur ein leichtes Augenrollen oder einen entzückten Seufzer entlockten.

Es sollte hier nicht unerwähnt bleiben, dass Jeremias sich aufgrund seiner angenehmen Erscheinung, der schlanken, hochgewachsenen Gestalt und der Eleganz mit der er sich zu bewegen wusste, der Aufmerksamkeit der Damenwelt erfreute, insbesondere derjenigen ihrer Vertreterinnen, die sich im heiratsfähigen Alter befanden, und denen der Gedanke an ein Leben als Königen ansprechend, um nicht zu sagen erstrebenswert erschien.

Bislang allerdings war nicht bekannt, ob überhaupt und wenn ja zu welcher der reizenden und kostbar geschmückten jungen Damen, die an seinen Lippen hingen, obwohl diese noch kein Wort gesprochen hatten, Jeremias sich hingezogen fühlte.

Und die meisten der Menschen, die ihn umgaben, die ihn begleiteten, erachteten ihn als zu jung, zu unbedarft, als dass er sich bereits fest zu binden gedenken sollte.
Obwohl die Stimmen lauter wurden, die ihn drängten. Und obwohl Jeremias bislang Verständnis und Einsicht in Bezug auf jede einzelne der Forderungen, die sein Stand und seine Verantwortung ihm auferlegten, gezeigt hatte, gab er sich in dieser einen Hinsicht bedeckt, zog sich auf Fragen hin ausweichend zurück oder verwies auf Prioritäten, die geklärt werden mussten, lange bevor die Diskussion über sein Privatleben eröffnet werden konnte.

Jeremias war beileibe nicht der erste oder einzige, dessen Krönung einer Familiengründung und der Frage der Erhaltung des Stammbaumes vorausging. Seine Blutlinie prägten Vernunftehen, die aus politischen und praktikablen Gründen vollzogen wurden.
Und die Zeichen standen gut, dass Jeremias gedachte, diese Tradition fortzusetzen.

Der junge Thronanwärter hatte seinen Weg vollendet. Er drehte sich um, so dass der halblange königliche Umhang in eine Schwingung versetzt wurde, die seinen Oberkörper umschmeichelte, als er innehielt, und wandte sich an seine zukünftigen Untertanen.

In wenigen, schlichten Worten dankte er ihnen für ihr Erscheinen und für die Ehre, die sie ihm erwiesen und verlieh zugleich der Hoffnung Ausdruck, dass die Sünden der Vergangenheit gesühnt worden und das Land endlich bereit sei, besseren Zeiten entgegenzusehen.

Der Sänger stimmte die uralte Weise an, welche die Zeremonie einleiten sollte, und Jeremias sank auf seine Knie, während die Erzbischöfe auf ihn zu schritten, Krone und Zepter auf samtenen Kissen vor sich trugen.

Die Musik schwoll hinauf zu den funkelnden Leuchtern, und die Menge hielt ihren Atem an, als das Oberhaupt der Weisen die Krone in seine Hände nahm und sie hoch über den Kopf des jungen, zukünftigen Königs hielt.

Doch noch bevor er sprechen konnte, unterbrach den Weisen ein Windstoß, der die Kleider der Anwesenden aufwirbelte, Sand und Staub in den Thronsaal trug.
Die Menschen husteten und wandten sich ab. Sie bedeckten Augen, Münder und Gesichter, suchten sich zu schützen, als der Sturm nicht nachließ, als er im Gegenteil, an Intensität nur zunahm.

„Was geht hier vor?“, rief Jeremias. „Was ist so wichtig, dass es diese Zeremonie unterbrechen dürfte, die doch den Beginn einer neuen Zeit markiert.“

„Du weiß, was so wichtig ist.“ Eine heisere Stimme, dennoch laut genug, um in den entferntesten Winkel des Thronsaales vorzudringen, erklang, als sich der Wirbel beruhigte und aus seiner Mitte eine Gestalt hervorging.

Die weiße Maske glänzte im Licht der Kronleuchter, und die Menge zuckte zusammen, als sie erkannte, wer es war, der sich ihnen hier offenbarte.

Torrensoling der Zauberer, letzter seiner Zunft, und somit der mächtigste Magier im Land. Böse Stimmen behaupteten, dass Torrensoling nicht unbeträchtlich an der Strafe beteiligt war, die sie eingeholt hatte.
Und fürwahr umgab diesen Mann etwas Furchteinflößendes, eine Aura der Gefahr, die jeden erschreckte, der sich in seiner Gegenwart aufhielt. Was vielleicht erklärte, wieso Torrensoling die Einsiedelei vorzog. Dies, oder seine tief sitzende Abneigung gegenüber Menschen.

Und auch jetzt blitzten die Augen unter seiner weißen Maske nicht nur ungeduldig, sondern verärgert. Schlicht verärgert aufgrund der Tatsache, dass er gezwungen war, sein Leben der Meditation und spirituellen Erfüllung aufzugeben, um der Welt, die ihn umgab, seine Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, obgleich sie diese nicht verdiente.

„Die Zeichen sind deutlich“, sprach er und richtete seinen finsteren Blick auf den jungen Thronanwärter, der sich langsam aufrichtete.

„Runen und Innereien sprechen eine deutliche Sprache.“
Torrensoling drehte sich zu der Gästeschar. „Dieser Mann…“ Er wies auf den Prinzen. „Dieser Mann wird nie euer König sein.“
Ein Raunen ging durch die Menge, und Torrensoling nickte, als wollte er sich selbst bestätigen.

„Die Zukunft zeigt mir keine Frau an seiner Seite.“ Er neigte den Kopf. „Und wir alle wissen, dass ein Herrscher nicht allein bleiben darf. Die Gefahr des Machthungers, der Diktatur, der Schreckensherrschaft steigt mit jedem Moment, den er ohne Unterstützung, ohne Widerpart, ohne Entsprechung seiner Seele auf dem Thron verbringt.
Wir dürfen dies nicht zulassen, dürfen die Gefahr nicht akzeptieren.“

Der Hofmarschall trat vor den Prinzen. „Aber was schlägst Du vor? Was sagen die Runen über die Thronfolge? Jeremias ist der einzige Sohn. Er muss König werden. Und er wird seinen Pflichten nachkommen, heiraten und Nachkommenschaft zeugen. Weil es sich dabei um seine Aufgabe handelt. Ist es nicht so, mein Prinz?“
Er drehte sich zu dem jungen Mann um, wiederholte die Frage. „Ist es nicht so?“

Der Prinz schluckte trocken. Sein Blick schweifte über die Menge, von der unterschwelliges Murmeln hinauf an sein Ohr klang. Erwartungsvoll ruhten aller Augen auf ihm, und Jeremias konnte sie nicht mehr ertragen, nicht ertragen wie sie sich in seinen Körper bohrten mit der Frage, die er selbst sich stets geweigert hatte zu stellen.

Langsam schüttelte er den Kopf. „Ich weiß es nicht“, sagte er ehrlich und blickte zu Boden. „Ich weiß nicht, ob ich dazu in der Lage sein werde.“
Er sah wieder auf, über die vielen Gesichter, die sich ihm zuwandten, erstaunt, erschüttert oder verwirrt, und dann wanderte sein Blick zur Seite, über die Köpfe seiner engsten Vertrauten hinweg bis er den Heikos traf, den seines besten Freundes, seines Begleiters von Kindesbeinen an.
Torrensoling folgte dem Blick, bevor er mit seinem Stab auf den glänzenden Marmor stieß, bis ein helles, penetrantes Geräusch die Menge aufschreckte.

„Davon spreche ich“, sagte er und drehte sich zu den Gästen um. „Wir brauchen eine Lösung, und wir brauchen sie schnell.“

„Ich werde ihn heiraten.“ Eine junge Frau trat vor. Langsam sank sie in die Knie, blickte dann auf zu Torrensoling. „Es wäre mir eine Ehre.“

Torrensoling schüttelte den Kopf. „Ach liebes Kind“, murmelte er. „Ich weiß Dein Angebot zu schätzen, aber ebenso sicher bin ich, dass es nicht von großer Hilfe sein wird.“
„Dann melde ich mich.“ Eine weitere Dame trat hervor, gefolgt von einem jungen Mädchen, das ihrerseits beinahe gewaltsam zur Seite gedrängt wurde. Mit einem Mal schoben und stießen sich die Frauen gegenseitig aus dem Weg, jede nur noch von dem Gedanken beseelt, soweit sie es konnte, nach vorne zu gelangen, sich dem Prinzen anzupreisen.

Der junge Mann trat zurück, seine Augen weiteten sich mit jedem Schritt.
Heiko streckte die Hand nach ihm aus, doch als Jeremias beinahe nahe genug war, um diese zu ergreifen, fuhr Torrensoling dazwischen.
„Ich bin bereit, diese Zeremonie mit all meinen Kräften zu verhindern, solange das Schicksal des Landes ungewiss bleibt.“
Er wirbelte seinen Stab und ein Nebel stieg auf, verhüllte ihn ebenso wie Jeremias. Und als der Nebel verflog, blieb dort, wo sie gestanden hatten, nichts anderes übrig als leerer Raum.

„Wo ist er hin?“, fragte der Hofmarschall, noch bevor die Verwirrung die Menge erreichte. „Was ist passiert?“

„Unser König… wir brauchen ihn doch“, weinten die ersten, und einige der heiratswilligen Kandidatinnen warfen sich schluchzend zu Boden.
„Wo ist er?“

„Torrensoling hat ihn mitgenommen.“
Heiko, blass geworden, ging nach vorne. Er starrte einen Augenblick auf die Stelle, an der Jeremias eben noch gestanden hatte.
Er blinzelte, sah dann hilfesuchend zum Hofmarschall. „Wir brauchen ihn wieder“, stellte er fest. Keine Frage war es, sondern eine Feststellung und der Hofmarschall nickte.

Er richtete sich auf, gebot den Gästen mit einer Handbewegung zu schweigen.
„Gibt es Stimmen, die sich auf Torrensolings Seite schlagen? Die dagegen sind, dass Jeremias, der rechtmäßige Erbe, Sohn eines guten Königs, dessen Nachfolge antritt?“

Die Menschen schüttelten ihre Köpfe, erst vereinzelt und langsam, doch dann mit steigender Heftigkeit.
„Nein“, riefen einige. „Wir haben Verfehlungen begannen, gelogen, betrogen und gesündigt. Unser eigenes Wohl über das unserer Nächsten gestellt. Doch Jeremias gab uns Hoffnung, er sprach aus, was wir alle dachten. Wenn er uns führt, wird alles besser.“

Der Hofmarschall nickte, und sah zu Heiko. „Ich werde ihn zurückholen“, sagte dieser, und ein brausender Jubel erhob sich im Thronsaal.
Und als er an den Reihen der Gäste vorüber eilte, verbeugten sich der eine oder andere, obwohl Heiko weder einen Rang bekleidete, noch einen bekannten Namen trug.
Wie im Rausch eilte der junge Mann in Richtung des Stalles, wo sein Pferd bereit stand, wo die Stallknechte ihm aufmunternd auf die Schulter klopften und ihm Glück wünschten auf seinem Weg.

Jedermann kannte die Einöde, in der Torrensoling hauste. Und jedermann kannte die Gefahren des Weges, die es zurückzulegen galt.
Wo Torrensoling sich mit Hilfe seiner Zauberkraft durch die Luft teleportieren konnte, benötigten normal Sterbliche Tage bis sie das Ziel erreichten, sofern das Glück auf ihrer Seite stand.

Heiko durchquerte Wüsten und Dschungelgebiete. Er kämpfte mit Drachen und Schlangen, die Torrensoling ausgesandt hatte, ihm den Weg zu erschweren.
Langsam aber stetig bewegte er sich vorwärts, durchdrungen von der Hoffnung, getrieben von der Sehnsucht nach dem Freund, der ihm Zeit seines Lebens zur Seite gestanden hatte.

Und je weiter Heiko reiste, desto klarer wurde er sich über die Gefühle, die er für den Prinzen hegte, über das Band, das sie seit ihrer Kindheit verknüpfte.
Während Heikos Weg ihn immer weiter vom Palast fortführte, so wanderten seine Gedanken zurück in der Zeit.

Jeremias und er waren gemeinsam aufgewachsen. Als des Prinzen Adjutant war es stets seine Pflicht gewesen, diesen zu begleiten, zu unterstützen, seine Gedanken zu teilen. Er lieh ihm die notwendige Schulter, wenn diese vonnöten war, schob ihn an, wenn er in seinem Ehrgeiz nachließ, forderte ihn, wenn immer es darum ging, das Beste aus sich herauszuholen.


Wenn Jeremias zu dem König geworden wäre, der er sich angeschickt hatte zu sein, so war dies nicht zuletzt Heikos Verdienst.
Doch lag in diesem Wissen nicht der Grund für Heikos Eile, die ihn vorwärts trieb. Weder Staatsraison noch der Gedanke an das Wohl des Volkes, das einen König wie Jeremias brauchte, zwang Heiko dazu, seine Kräfte bis zur letzten Grenze zu erschöpfen.

Nein – etwas anderes bewog ihn weiterzugehen, so schwer und anstrengend, manches Mal unmöglich es ihm erschien, auch nur einen einzigen Schritt weiter zu tun.
Es war die Unruhe, die Furcht, die Heiko tief in sich spürte.
Furcht vor dem, was mit dem Prinzen geschah, was mit ihm geschähe, wenn Heiko ihm nicht zur Hilfe käme.

Denn er wusste sehr wohl, dass außer ihm selbst niemand es wagte, Torrensoling die Stirn zu bieten. Nicht auf dessen Gebiet. Nicht in einem Fall wie diesem, in dem es um das Wohl des Landes ging, um das Wohl der Bevölkerung. Und das zu einer Zeit, während der ausgerechnet dieses Wohl auf wackeligen Füßen stand, während der niemand erwarten konnte, dass ein Risiko eingegangen wurde.

Und so ritt Heiko weiter, unermüdlich und voller Hoffnung, und doch getrieben von der Unruhe, der Frage, was es war, worauf er zuritt.

Jeremias befand sich in einer Blase. Zumindest kam es ihm so vor. Er konnte nicht über die Ränder des Ballons in dem er gefangen war, hinaussehen. Und hinter diesen lag nichts außer Dunkelheit.
Er war allein in dieser Blase, allein mit Torrensoling und mit einer blauen Flamme, die vor ihm loderte.

Wie hypnotisiert starrte Jeremias in die Flamme hinein, beobachtete deren vage, zuckende Bewegungen, folgte mit dem Augen ihren seltsamen Sprüngen oder den Funken, die sie ausstieß, als sei sie ein lebendiges Wesen, das unter gelegentlichen Hustenanfällen litt.

In Torrensolings glänzender Maske spiegelten sich ihre Bewegungen. Zu hören war kein Laut, mit Ausnahme eines gelegentlichen Knisterns, das Jeremias jedesmal zusammenzucken ließ.

Er hob den Kopf und bemerkte erst in diesem Augenblick, dass er auf dem Boden kauerte, auf der nachgiebigen und doch glatten Substanz, die er für den Boden hielt, die jedoch nichts anderes, als einen der Wände der Blase darstellten.
Die Augen Torrensolings bohrten sich aus den Höhlen der Maske in Jeremias‘ eigene, der den Blick nicht lange aushielt, sondern seine Lider niederschlug.

„Was willst du von mir?“, brachte er schließlich mühsam hervor. „Hat es dir nicht gereicht, den Krönungstag zu zerstören?“
Jeremias ahnte Torrensolings Grinsen unter der Maske, doch dieser antwortete nicht.

„Zeige mir wenigstens dein Gesicht“, forderte Jeremias. „Solltest du mich töten wollen, so habe ich zumindest den Respekt verdient, der mir gebührt.“

Der Zauberer schüttelte langsam den Kopf. „Du warst schon immer ein verwöhnter Knabe. Bereits damals, als ich dich in den heiligen Künsten unterrichtete. Du wolltest den Traditionen nie die Ehrfurcht erweisen, die sie verdienten. Du wolltest nie anerkennen, dass unbedingter Gehorsam eine Tugend ist, der es um jeden Preis zu folgen gilt.“

„Und ich glaube immer noch nicht daran.“
Jeremias hob sein Kinn, sah Torrensoling direkt an. „Es gibt Regeln, die es wert sind, gebrochen zu werden. Ja, die gebrochen werden müssen, damit aus dieser Welt ein besserer Ort werden kann. Wir alle befinden uns nur zu dem einen Zweck auf Erden – um zu lernen uns zu entwickeln, neue Lösungen zu finden für unlösbar erscheinende Aufgaben.“

Torrensoling schnaubte. „Gesprochen wie ein Rebell, ein Freigeist, der bereit ist alles zu opfern, was unser Land, unser Leben und unsere Werte ausmacht.“
Jeremias schüttelte seinen Kopf. „Wenn wir erkennen, dass ein Weg nicht funktioniert, so ist es unsere Pflicht einen besseren zu suchen. Denkst du nicht auch so, Torrensoling?“

Der Magier prustete. „Ganz gewiss nicht. Ideale existieren, die älter sind als wir, die bereits vor uns bestanden und auch nach unserem Dahinscheiden noch Bestand haben werden.“
Jeremias räusperte sich. „Doch nicht alles, was du als ein Ideal ansiehst, gehört auch wirklich zu den Werten, welche die Ewigkeiten überdauern sollten.“

Torrensoling streckte sich. Seine Augen sandten Blitze aus. „Du wagst es, meine Macht anzuzweifeln.“
Nun richtete sich auch Jeremias auf. Jedoch stand er still und bescheiden vor dem Zauberer, neigte den Kopf, als er ruhig weitersprach. „Ich wage es, deine Überzeugung anzuzweifeln“, sagte er leise. „Wir alle sind letztendlich nur Menschen, die sich damit abfinden müssen, dass sie hin und wieder irren können.“

Torrensoling lachte blechern. „Auch du, junger König?“
Torrensoling nickte. „Auch ich – und ich noch viel mehr als jeder andere. Die Verantwortung, die ich tragen soll, macht mich nicht unfehlbar. Meine Pflicht ist es, ständig darauf zu achten, dass meine Fehler entlarvt werden, meine Irrtümer aufgedeckt und ein falscher Kurs korrigiert wird.“

Torrensoling stieß seinen Stock in die Höhe, und die blaue Flamme folgte der Richtung, indem sie nach oben züngelte.
„Warum verweigerst du dich dann der ersten aller Verneigungen vor der Schönheit des Lebenszirkels? Warum hast du dir in deinem Alter noch keine Braut gesucht, keine Nachkommen gezeugt, keinerlei Anstrengungen unternommen, dein Geschlecht zu erhalten? Du bist der letzte Nachkomme. Es wäre deine Pflicht.“

Jeremias schluckte, senkte dann seinen Kopf. „Ich weiß“, antwortete er, und fügte dann leise hinzu. „Ich konnte es nicht… konnte es mir niemals überhaupt vorstellen.“
Torrensoling schnalzte mit der Zunge. „Und wie glaubst du dann, die Bedürfnisse deines Volkes über deine eigenen stellen zu können, wenn du noch nicht einmal zur Erfüllung der geringsten aller Aufgaben imstande bist?“

Jeremias holte tief Luft und hob seinen Kopf wieder. „Ich weiß, dass ich dazu imstande bin“, sagte er fest. „Ich weiß, dass ich trotzdem ein guter König sein kann. Und ich weiß, dass es für einen König keine Rolle spielt, ob oder wie viele Kinder er zeugt. Seine Taten sind es, die zählen, auf die dereinst die Geschichtsschreiber zurückblicken werden.“

Torrensoling schüttelte den Kopf. „Aber du lässt dein Land ohne Thronfolger, ohne Regierung zurück, ohne legale Ansprüche. Chaos und Anarchie werden ausbrechen, sollte die Blutlinie unterbrochen werden.“

Jeremias räusperte sich. „Es kann nicht nur um das Blut gehen. Wenn es auf dieser Welt gerecht zu gehen soll, dann zählen ein starker Charakter und die Fähigkeit zu regieren. Denke nicht, dass ich mir nicht bereits gründlich Gedanken über eine neue, eine verbesserte Form zur Ermittlung eines Herrschers gemacht habe. Nur die Besten, nur die Weisesten und die Begabtesten, sowie die, deren Herz am rechten Fleck sitzt, sollen eine Chance erhalten. Und das unabhängig von ihrer Geburt oder ihrem Stand. In einem Müllerburschen kann ein besserer König stecken, als in jedem Adeligen von einer Grenze bis zur anderen.“

Torrensoling keuchte. „Das ist aufrührerisches Gedankengut. Es ist verboten, dieses auszusprechen.“
Jeremias schüttelte den Kopf. „Mein Vater verbot es genau so wenig, wie ich es verboten hätte. Eine neue Zeit ist angebrochen, Torrensoling. Und du hast es nicht bemerkt.“

Er schluckte, ging dann einen Schritt auf die Flamme zu, fröstelte als er deren Kälte spürte. „Über kurz oder lang werden deine Spielereien, deine leeren Rituale niemanden mehr beeindrucken. Ob du mich tötest oder nicht, es wird ein anderer kommen und meinen Platz einnehmen. Irgendwann – und du wirst es nicht verhindern können.“

„Schweig still.“ Torrensoling hob den Stab über seinen Kopf und dieser sandte violette Blitze aus, die an den Wänden der Blase abprallten, bevor sie zurückgeschickt wurden, Jeremias wie Nadeln aus Eis durchfuhren, bis dieser zu Boden fiel und sich in Schmerzen wand.

Torrensoling lachte blechern. „So ist es, mein Prinz. Letztendlich sind wir alle nur Körper, Opfer unserer fleischlichen Begierde und unserer Gebrechen. Eine kleine Verletzung verwandelt dich von einem angeberischen Heuchler der große Worte schwingt, in ein jammerndes Häufchen Elend. Es ist an der Zeit, dass du das einsiehst, und dich meinem Willen fügst.“

Jeremias stieß einen Schmerzenslaut aus. „Und welches wäre dein Wille?“, flüsterte er erschöpft.
„Befolge die Regeln“, forderte Torrensoling. „Lehne dich nicht auf gegen die Bestimmungen der Natur, die Tatsachen, die in Stein gemeißelt wurden, noch ehe auch nur einer von uns begann zu existieren.“

„Ich befolge die Regeln“, wisperte Jeremias entkräftet. „Ich befolge jene, die ich für wert erachte, befolgt zu werden.“
Ein weiterer eisiger Blitz traf ihn, und Jeremias erzitterte, krümmte sich zusammen, bevor er das Bewusstsein verlor.
Torrensoling lachte, ein dunkles grausames Lachen, das seinen Weg durch die Einöde suchte.

Heiko hielt sein Pferd an und lauschte. Als das Lachen an sein Ohr drang, erschauerte er und begann zu frösteln.
„Jeremias“, flüsterte er. Heiko fühlte, nein, er wusste mit absoluter Sicherheit, dass es um den Freund ging, dass es sein Leiden war, das er miterlebte. Und er verwünschte sich selbst, verwünschte die erzwungene Langsamkeit seiner Reise, als er das Tier antrieb und vorwärts preschte in Richtung des Prinzen, von dessen Aufenthaltsort er nun eine sichere Ahnung erhalten hatte.

„Niemals werde ich aufgeben“, seufzte Jeremias entkräftet. „Niemals. Du wirst nicht erhalten, was du von mir forderst.“

„Das werden wir sehen“, lachte Torrensoling boshaft und richtete einen weiteren Blitz auf den jungen Mann.
Der Hall des Donners erschütterte die Blase, und Torrensoling warf den Kopf in den Nacken in einem jubilierenden Schrei.
„Dann werde ich dich töten“, rief er voller Enthusiasmus. „Du wirst wie eine Fliege vor mir im Staub kriechen und um Gnade winseln, wenn ich es will. Und ich werde die Befriedigung erhalten, einen König zu entthronen, der niemals auch nur in die Nähe einer Königskrone hätte gelangen dürfen.“

„Das wirst du nicht.“

Torrensoling fuhr herum. Die durchsichtigen Wände der Blase gaben den Blick frei auf eine Gestalt, die sich durch die Dunkelheit vorwärts kämpfte, durch das Nichts ihren Weg fand.
„Heiko“, keuchte Jeremias, und versuchte sich zu erheben. Doch eine Bewegung von Torrensolings Stab drängte ihn erneut zu Boden, presste ihn wie eine Druckwelle herab.

„Wer ist dieser Wicht?“, lachte Torrensoling. „Wer wagte es in mein Gebiet einzudringen, die Unberührtheit meiner Einsamkeit zu beschmutzen?“
Seine Stimme wurde schriller mit jedem Wort. Verärgerung und zugleich unverhohlenes Erstaunen schwangen in den Lauten mit, die Jeremias‘ Trommelfell unangenehm durchdrangen bis er mit schmerzverzehrtem Gesicht seine Hände gegen die Ohren presste.

Heiko näherte sich unaufhaltsam. Weder Torrensolings Schrei noch seine Drohgebärden hielten ihn davon ab, sich Jeremias zu nähern.
Er sah nur ihn, war einzig beseelt von dem Wunsch, den anderen aus diesem Gefängnis zu holen, ihn zurückzubekommen und wieder bei sich zu haben, für sich zu haben.

Heiko zog sein Schwert. Doch als er begann mit diesem gegen die gläsernen Wände der Hülle einzuschlagen, die ihn von Jeremias trennten, vibrierten die Schläge in seinen Armen und Beinen, rieselten schmerzhaft durch seinen ganzen Körper, zeigten jedoch keine Wirkung.
Lediglich ein scharfes Klirren ertönte, fuhr über die Außenwände der Blase und erleuchtete diese in einem violetten Schimmer, doch ohne das Gebilde auch nur im Geringsten zu erschüttern.
Kein Spalt, kein Riss zeigte sich, obwohl die Klinge des Schwertes scharf genug war, dass sie ohne Schwierigkeiten Stein durchtrennen konnte.

Doch der Schutz, der Torrensoling und Jeremias umhüllte, gab nicht nach; Torrensolings Zauber hielt ihn unabhängig von jeder Erschütterung, jeder nur möglichen Gewalteinwirkung in seinem Platz.

Jeremias öffnete die Augen und sah hinaus zu dem Freund, der unablässig auf die Wände einhob, diese von allen Seiten bearbeitete, während Torrensoling zu kichern begann, schließlich die Arme in die Seiten stemmte, seinen Kopf in den Nacken warf und laut hinaus lachte.
„Mein armer Junge“, brachte der Zauberer schließlich mühsam und unter Glucksen und Hicksen hervor. „Deine Anstrengungen werden dir nicht helfen. Mein Zauber ist zu mächtig, meine Macht zu groß, als dass du schwaches Menschlein sie nur ankratzen könntest.“

Jeremias stützte sich auf seinen Arm, sah Torrensoling an. „Du bist auch nur ein Mensch“, sagte er ruhig. „All deine Macht wird einst verblassen, so wie die Kräfte eines jeden Menschen, ob klein oder groß, dereinst ins Nichts übergehen werden.“

Torrensoling lachte immer noch. „In ein Nichts, das eine neue Welt gebärt“, sagte er leutselig. „Meine Macht wird übergehen in etwas Größeres, verschmelzen mit der Unendlichkeit des Seins.“

„Lass mich gehen“, sagte Jeremias. „Wenn dein Einfluss so groß ist, was willst du dann von mir? Was kann ich ausrichten, das wichtig genug ist, als dass du dich darum kümmern müsstest?“
Torrensolings Kopf fuhr herum. Die unablässig flackernde Flamme inmitten der Blase zeichnete furchterregende Muster auf seine Maske.

„Unterschätze mich nicht“, grollte er. „Unterschätze mich niemals, Prinz. Ich weiß, wer du bist. Und ich weiß von dem Einfluss, den du auf die Menschen ausübst, die deine Untertanen sind. Ich weiß von den Fehllehren, die du imstande bist, ihnen zu verkünden, von den falschen Wegen, die du sie führen wirst.“

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst?“, keuchte Jeremias, und kämpfte um auf seine Füße zu kommen. Er strauchelte, stürzte wieder und kniete. Sein Blick wich von Torrensolings furchteinflößender Gestalt ab und wanderte zu Heiko, der seine letzten Kräfte mobilisierte, um die fruchtlosen Bemühungen fortzusetzen.
Doch dessen Hiebe richteten immer noch nichts aus, weder schwankten die Wände, noch bebten sie, noch zeigten sie auch nur die geringsten Anzeichen einer Verletzung oder Erschütterung.

Mit einem verzweifelten Stöhnen hob Heiko das Schwert ein letztes Mal an und ließ es krachend gegen die Hülle fallen, die standfest und hart blieb wie bei jedem seiner vorigen Versuche.
Heiko keuchte, und das Schwert glitt aus seinen Händen, während er auf die Knie sank. Er blickte auf und befand sich in Augenhöhe mit Jeremias, der ihn schmerzerfüllt ansah.

„Du bist gekommen“, flüsterte der Prinz. „Ich danke dir.“
„Ich musste es tun“, antwortete Heiko. „Ohne dich kann ich nicht sein.“
Jeremias hob eine seiner Hände, legte sie gegen das Glas, das sich überraschend kühl und glatt anfühlte.
„Und ich nicht ohne dich“, sagte er schlicht. „Jetzt weiß ich es.“

Er blinzelte. „Wieso haben wir es nicht früher gesehen?“, wisperte er leise, und doch laut genug, dass Heiko ihn über alle Hindernisse, über das Rauschen in seinen Ohren hinweg hören konnte.
„Wir sehen es jetzt“, antwortete er, und legte seine eigene Hand auf die andere Seite der Glashülle, gerade gegenüber der von Jeremias, so dass nur noch die kühle Substanz sie trennte.

Sie sahen sich an, ihre Augen trafen sich. Blicke tauchten ineinander und Lippen öffneten sich in gegenseitigem Verstehen.
Der violette Schimmer, der von Zeit zu Zeit über das hauchzarte Glas gewandert war, wurde dunkler, intensivierte sein Leuchten. Jeremias und Heiko sahen sich unverwandt an, ihre Hände gegen das Glas gepresst, das sich unter ihnen verformte, bog, während ihre Gesichter sich unmerklich der Scheibe näherten.
Das Glas, das sie voneinander trennte, erwärmte sich, sei es durch die Hitze ihres Blickes oder durch die Wärme, die durch ihre Finger strömte, sie durch die Scheibe hindurch miteinander verband.

Ihre Augen tranken den Anblick des anderen, ihre Körper kribbelten im Bewusstsein der Nähe, die bereits zu greifen war, und doch unmöglich zu erreichen schien.
Zu lange waren sie getrennt, länger als jemals zuvor in ihrer beider Leben. Weiter voneinander entfernt, als sie es jemals gewesen waren.

Das Glas erwärmte sich, die Hitze drang aus ihren Augen, aus ihren Händen in die Hülle, durchströmte diese, ließ sie sich erweichen.
Das Glas verformte sich unter ihren Fingern. Die Blase wackelte, die Hülle schmolz mit einem Seufzer.

„Neiiiin“, kreischte Torrensoling. „Das darf nicht sein, es geht nicht. Es ist unmöglich.“
Doch er besaß keine Macht mehr über die Hülle, über die gläsernen Wände. Sie schmolzen, sie sanken in sich zusammen, zerflossen in glasige Fäden, die emporstiegen und in der Dunkelheit verdampften.
Die Barriere zwischen ihnen bröckelte, brach zusammen, noch ehe sie sich dessen bewusst werden konnten.
Doch was sowohl Heiko als auch Jeremias spürten lag in dem Zauber der körperlichen Anziehung, die beide erzittern ließ.

Hände streckten sich aus, Arme fanden sich und Körper schmiegten sich aneinander. Heiko zog den jungen König näher, und dieser fiel mit einem Seufzer gegen ihn, schlang seine Arme um des Größeren Schultern, legte seine Wange gegen die seines Freundes.

„Was soll das?“, schrie Torrensoling. „Was geht hier vor? Das kann nicht sein.“
Er versuchte dazwischen zu gehen, doch sein Stab schmolz ebenso wie die Hülle, in die er Jeremias und sich vermeintlich endgültig eingeschlossen hatte, geschmolzen war.

Heiko stütze Jeremias, als dieser sich erhob. Sie ließen nicht voneinander, blieben umschlungen, glücklich, zufrieden in der Wärme des anderen.
„Was geht hier vor?“, keuchte Torrensoling, und wich einen Schritt zurück. „Was tut ihr?“

Endlich drehte sich Jeremias zu ihm. „Siehst du das nicht?“, flüsterte er, bewegt von den starken Gefühlen, die ihn durchdrangen. „Kannst du es nicht sehen?“
Er erschauerte.
„Ich weiß es auch nicht“, flüsterte Heiko und küsste Jeremias‘ Hals über dem königlichen Kragen. „Was ist geschehen. Sag es mir.“

Und Jeremias lächelte. „Es ist die Liebe“, antwortete er. „Sie ist stärker als alles andere, stärker und wahrhaftiger als jede Zauberkraft, die doch nur ein schwacher Abglanz dessen sein kann, was in diesem Universum von Bedeutung ist.“

„Liebe?“, wisperte Heiko und Jeremias lächelte.
„Du fühlst sie doch auch“, sagte er leise. „Nur die Liebe ist stark genug um Mauern niederzureißen, um Entfernungen zu überwinden, die unüberwindbar scheinen, um Festungen zu stürmen, die von jeher uneinnehmbar wirkten.“

Heiko nickte und presste sein Gesicht in die Kurve zwischen Jeremias‘ Hals und Schulter. Seine Stimme klang erstickt, als er weitersprach.
„Dann ist es also wahr, wirklich wahr?“
„Das ist es.“ Jeremias küsste Heikos Haar.

„Das ist es nicht“, schrie Torrensoling erbost. „Das ist keine Liebe. Das ist schwarze Magie, verbotene Hexerei. Es ist unmöglich, gefährlich und falsch. Falsch in jeder Hinsicht.“

„Aber wieso?“ Jeremias drehte sich zu Torrensoling um, behielt jedoch seinen Arm um Heiko gelegt, so wie jener seine Arme um Jeremias‘ Körper schlang.
Jeremias‘ Stimme klang leise, jedoch fest, bestimmt und entschlossen.

„Ist es nicht das, was du gefordert hast? Einen Menschen an der Seite des Königs, der ihm genug bedeutet, dass dieser seine Entscheidungen in der Gemeinschaft abwägt. Der ihn erdet, seinem Leben ein Fundament gibt, seine Welt ordnet, ihm Halt und Sicherheit verleiht und gleichzeitig davon abhält, den Boden unter seinen Füßen zu verlieren, sich in Wirren zu verstricken, die für seine Untertanen die fatalsten Folgen hätten.“

„Aber…“ Torrensolings Stimme überschlug sich. „Es muss eine Frau sein. Zu einem König gehört eine Königin, zu jeder Königin der König. So ist es bestimmt, so lautet die uralte Regel.“

„Wer hat das bestimmt?“, fragte Jeremias ruhig. „Von Menschen erschaffene Gesetze unterliegen Irrtümern. Und solange wir leben, lernen wir. Auch du, Torrensoling. Auch du lernst dazu.“

„Niemals“, bellte der Zauberer. „Das ist nicht richtig, nicht wahr.“
Heiko hob seinen Kopf. Er ließ seinen Blick über die Ödnis schweifen, die er so mühsam durchquert hatte, richtete ihn auf die Dunkelheit, die sie umgab. Und in diesem Augenblick falteten sich die letzten Überreste der gläsernen Hülle wie eine sich öffnende Blüte auseinander.

Durchsichtige Blätter sanken hinab, suchten Kontakt mit dem Grund, und in dem Moment, in dem sie diesen gefunden hatten, breiteten sie sich aus, flossen auseinander, dehnten sich in die Ferne.
Und mit ihnen glitt ein mattes Licht über den Boden, das Wärme und Leben mit sich brachte, dessen Quelle inmitten der verschlungenen Gestalten Jeremias‘ und Heikos entsprang.

„Siehst du?“, flüsterte Jeremias, ohne zu wissen, ob er zu Heiko oder zu Torrensoling sprach.
„Ja.“ Heikos Augen wanderten zu dem Zauberer, der mit geöffnetem Mund beobachtete, wie das schimmernde Licht die Dunkelheit vertrieb, wie die Ödnis erfüllt wurde von Bewegung, von Geräuschen, Gesängen und Musik.

Duftende Wiesen streckten sich in die Ferne aus. Helles Grün sprach von einem neuen Anfang.
„Ich sehe es.“ Heiko lächelte und legte seine Hände auf Jeremias‘ Wangen, bevor er dessen Lippen zu den seinen zog. „Ist das der Beweis?“

Jeremias küsste ihn. „Es ist der Beweis, dass wir richtig liegen. Dass wir das Richtige tun.“

Torrensoling schüttelte wild seinen Kopf. „Das kann nicht sein“, krächzte er. „Ich glaube das einfach nicht. Ich will es nicht glauben.“

„Aber warum denn nicht?“, fragte Jeremias, und sein Gesicht leuchtete im Schein der aufsteigenden Sonne.

„Weil… weil…“ Torrensoling hustete, beugte sich vorwärts, zuckte in heillosen Krämpfen. „Weil es eine Frau sein muss… eine… weil wir sonst nichts haben… nichts außer…“

Er erschauerte. „Ihr begeht einen unverzeihlichen Fehler. Die Blutlinie wird aussterben, die rechtmäßige Nachkommenschaft angezweifelt. Krieg und Chaos unvermeidbar.“

„Das ist nicht wahr“, sagte Jeremias sanft. „Wir werden rechtzeitig und sorgfältig auswählen, welcher Mensch, welches Kind zur Herrschaft bestimmt sein wird.
Durch seine Adern muss nicht unser Blut fließen. Unser Geist, unsere Erziehung, unsere Lehren sind es, auf die es ankommt.“

„Nein…nein.“ Torrensoling schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

Dann stürzte er zu Boden, und die Maske rutschte von seinem Gesicht.
Jeremias sog erstaunt die Luft ein und Heiko blinzelte verdattert.

„Torrensoling?“, fragte Jeremias unsicher.
Graues Haar ringelte sich lang über Torrensolings Kragen. In langen Wimpern hingen Tränen. „Ihr seht richtig“, krächzte die Frau. „Ich bin kein Zauberer. Ich bin eine Hexe. Und ich bin die letzte Bastion, das letzte Wesen auf Erden, das für die Rechte des schwachen Geschlechtes eintritt. Ohne mich sind die Frauen verloren, armselige, abhängige, bedeutungslose Wesen…“

Sie schüttelte sich. „Ohne mich wird die Menschheit aussterben, wird niemand mehr wissen, was der Kreislauf des Lebens bedeutet.“
„Wir werden es wissen“, versprach Jeremias sanft.

„Ich werde dies nicht zulassen“, kreischte Torrensoling und sprang auf. Sie richtete beide Hände auf die blaue Flamme, die immer noch unverändert vor ihnen brannte. „Töte sie“, kreischte die Hexe. „Du bist mein Geschöpf. Entferne sie vom Angesicht dieser Erde.“

Die Flamme zischte. Sie erhob sich und fuhr in Richtung der Liebenden.
Sie griff Jeremias an, der zurückwich. Und in diesem Moment warf Heiko sich vor ihn, breitete die Arme aus und beschützte den Prinzen mit seinem Körper.
Blaues Licht leuchtete grell, doch es verharrte, zögerte.
Die Flamme tanzte langsam von links nach rechts, als versuche sie an Heiko vorbeizukommen. Doch als hielte sie eine Kraft, die stärker war, als der Grundstoff, der die Flamme entzündete und am Leben ließ, zurück.

„Was ist los“, kreischte Torrensoling erbost. „Worauf wartest du?“
Die Flamme zischte, flackerte in die Höhe, ballte sich zusammen zu einem blitzenden Feuerball, der auf einmal ohne Vorwarnung explodierte. Die Druckwelle presste Heiko gegen Jeremias und warf beide zurück, weiter zurück, bis sie zu Boden stürzten.

Auch Torrensoling stürzte, schrie. Ihre Schreie stiegen hinauf, bevor sie verblassten, zerbröckelten, ebenso wie ihre Gestalt verblasste.
„Was geschieht hier?“ Jeremias rappelte sich auf. Heiko reichte ihm seine Hand, half ihm sich zu erheben.
„Wir sind stärker“, sagte der Größere schlicht. „Unsere Liebe ist stärker als der Hass und als die Vorurteile, die sich durch die Jahrhunderte erhalten haben.“

„Das ist nicht wahr“, kreischte Torrensoling, noch während ihre Gestalt durchsichtig wurde und dann zerfiel, auseinander staubte, und schließlich von einem Windstoß in winzige Flusen geteilt und so in alle Richtungen getragen wurde.

Heiko hielt Jeremias fest, als der Sturm aufkam. Er beschützte ihn wieder, erdete ihn auf dem Grund, wartete bis der Wirbel, der sie umgab, sich verzogen hatte, aufgelöste ins Nichts.

Und immer noch hielt er Jeremias fest, wiederholte: „Unsere Liebe ist stärker.“
Und Jeremias nickte in seine Umarmung. „Ja“, flüsterte er, richtete sich auf, sah um sich. Seine Blicke glitten über die Streifen Licht, die das saftige Gras zum Dampfen brachten, über die Wärme, die vom Erdboden aufstieg, der einst eine Ödnis gewesen war, hinaus in die Ferne, zum Horizont, an dem alle Farben des Regenbogens miteinander tanzten.
„Ja“, wiederholte er, und sah zu Heiko hinauf. „Lass uns nach Hause gehen.“

Er löste sich von dem Größeren, und genau in diesem Moment tauchte Heikos Pferd auf, wieherte froh, als es seinen Herrn erblickte, beugte dann seinen Kopf vor dem jungen König.

Sie bestiegen das Tier und durchquerten das Land in einem Rausch der Geschwindigkeit, erreichten ihr Ziel weitaus schneller, als sie es erwarten konnten.

Im Thronsaal drängten sich immer noch die Menschen, die ihres Königs harrten, die eine Antwort erwarteten, wo es keine Antwort geben konnte.
Und als Jeremias und Heiko Hand in Hand den Saal betraten und durch das Spalier der Menschen ihren Weg zum Thron antraten, da brandete der Applaus auf.

„Es lebe unser König“, riefen die Menschen. „Ein Hoch auf das neue Zeitalter.“
Und Jeremias blieb stehen, noch ehe er sein Ziel erreicht hatte, und sah Heiko tief in die Augen.
„Ich danke dir“, sagte er schlicht.
Und Heiko lächelte. „Nein“, antwortete er leise. „Ich danke dir. Für alles.“

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