Dienstag, 7. Juli 2009

Ehrlichkeit

Titel: Downloading
Autor: callisto24






Tamara starrte auf die Wörter, die eines nach dem anderen, Buchstabe für Buchstabe auf dem Bildschirm auftauchten. Das nagende Schuldgefühl in ihrem Inneren wollte sich nicht legen, wie viele Emails sie auch verfasste, wie viele neue Seiten sie auch anklickte.

Im Gegenteil. Jede Sekunde, die sie online blieb, verschlimmerte den Druck auf ihren Lungen, vergrößerte die Angst in ihrem Herzen.
Hätte sie es nur nicht getan? Es war das Risiko nicht wert, diesmal noch viel weniger wert gewesen, als jemals zuvor?

Nicht dass sie es oft tat. Nein, nur in Notfällen griff sie zu diesem allerletzten Mittel, nur wenn die Spannung unerträglich war, wenn sie es nicht aushielt, wenn keine andere Möglichkeit in Greifweite stand.

Nur dann wagte sie sich in Gefilde vor, die – wie sie wohl wusste – einen Hauch von Illegalität besaßen.
Nicht dass sie wusste, in welchem Ausmaße Aktivitäten wie diese illegal waren, geschweige denn, dass sie die Folgen kannte.
Aber es mussten derer furchtbare sein, schreckliche Folgen, die sich auszumalen sie zurückschreckte.

Da existierten diese Spots, diese Warn-Filme. Oft genug hatte sie diese gesehen. Schließlich handelte es sich bei ihr um eine Film-Närrin der allerersten Klasse.
Früher war es Kino gewesen, dann Video, und jetzt DVD.
Der Computer brachte alles durcheinander.
Natürlich vereinfachte er auch vieles.
Die Welt rückte zusammen.

Dinge, die einst unerreichbar schienen, erreichten eine greifbare Nähe.
Sie brauchte nur die Hand auszustrecken, um alles zu erfahren, alles, was ihr Herz begehrte.

Und ihr Herz war bescheiden.
Sie griff nicht nach den Sternen. Sie wollte nicht alles. Sie lud sich keine Blockbuster hinunter, sie war weit davon entfernt, sich auf auch nur irgendeine verdrehte Art zu bereichern.

Nein, bei Tamara handelte es sich lediglich um eine Sklavin ihrer Gelüste, ihrer Abhängigkeiten, wenn man so wollte.

Und was für eine Abhängigkeit sollte das schon sein?
Keine Drogen, kein Alkohol – das hatte sie hinter sich. Keine Neurosen – diese ließ sie seit behandeln.
Jede Art von Suchtverhalten, welches ihr in die Wiege gelegt worden war, bekämpfte sie nach Strich und Faden.
Nur nicht dieses.
Nur nicht die Sucht nach Serien.

Sie stellten einen Halt für sie dar, vielleicht den letzten Halt, der ihr blieb.
Die Zuverlässigkeit, mit der sich zu Freunden gewordene Seriengestalten Woche für Woche wieder in ihrem Zimmer, auf ihrem Fernsehmonitor einfanden, besaß etwas ungemein Tröstliches, beinhaltete eine Hoffnung, und damit einen Grund weiterzumachen.

Nicht selten den einzigen Grund, den sie sehen konnte.

Natürlich – sie nahm diese Serien zu wichtig, die Handlung, die Vorgänge, die emotionalen Verstrickungen und die Entwicklungen der Charaktere. Sie waren ihr wichtiger als ihr eigenes Leben, wichtiger als alles andere um sie herum.
Sie wusste das. Und doch konnte sie nicht aufhören, wollte sie nicht aufhören.

Was blieb ihr schon? Was hatte sie vom Leben, außer den verworrenen Strängen, denen sich ihre Lieblinge Woche für Woche aussetzten, und in denen sie sich nur allzu gerne selbst mit verfing, sich selbst vergaß?

Willentlich und wissentlich ergab sie sich dieser Abhängigkeit, einer Abhängigkeit, die zumindest nicht allzu großen Schaden anrichtete, die weder ihr noch den Menschen um sie herum wehtat, die ihr ein Leben ermöglichte, das normalerweise unerträglich für sie war.

Und doch – seit sie sich in der Welt der Computer zurechtfand, seitdem sie kommunizieren konnte mit Gleichgesinnten – ja – seitdem sie Gleichgesinnte entdeckt und zu ihrem eigenen Erstaunen festgestellt hatte, dass diese existierten, erfüllte sich ihr Leben von Tag zu Tag mit mehr Farbe. Mit neuen Entdeckungen, Erfahrungen, mit Vergnügungen von denen sie niemals gewagt hatte zu träumen.

Sie saß förmlich an der Quelle, nur einen Klick entfernt von den neuesten Gerüchten, Ereignissen, Geschehnissen aus der Welt derer, die ihr alles bedeuteten.

Wenn nur eines nicht gefehlt hätte? Eines vermisste sie immer noch und jetzt sogar mehr denn je.
Jetzt, wo sie wusste, was bereits geschehen war in dieser Welt, in der Serienwelt. Jetzt, wo sie es erfahren konnte, wann immer sie wollte. Nachlesen, worum es ging, Bilder betrachten, Meinungen hören. Jetzt wollte sie diese neuen Folgen auch sehen. Wollte sie unbedingt sehen. Unvorstellbar, dass das Gute bereits existierte, der Trost, die Erfüllung ihres Lebens auf zahllosen Bildschirmen flimmern durfte, nur nicht auf dem Ihren.

Warum nicht auf dem Ihren?
Sie lebte nicht im richtigen Land. Lediglich im Ursprungsland des unbändig tobenden Serienwahnsinns, bekamen die glücklichen Bewohner zu Gesicht, worauf sie schon so lange warteten. Worauf auch sie wartete, und worauf zu warten sie gezwungen blieb, gezwungen bleiben würde, bis ein gnädiges Schicksal die Serie ihrer Träume auch dorthin brachte, wo sie für Tamara erreichbar wäre.
Wenn sie denn erreichbar sein würde.
Nicht nur, dass sie gezwungen war, ein gutes Jahr zu warten, hin und wieder betrug die Wartezeit weitaus länger. Und hin und wieder wartete sie vergeblich.

Je nach Lust und Laune der Fernsehschaffenden, der Händler, die mit den Träumen und den Lebensinhalten von ihr und Menschen wie ihr handelten.

Denn dass sie nicht mehr alleine war, hatte sie erfahren, zumindest dies.

Manchmal reichte ein unglaubliches Aufgebot an Geduld und Selbstbeherrschung aus, bis die geliebte Serie auf DVD aufzufinden war.
Manchmal jedoch nicht.

Manchmal machte die DVD ihren Weg nicht bis über den großen Teich, manchmal verschwand sie spurlos, blieb ein Gerücht, eine vage Vorstellung, die sie nur mehr quälte.

Und Tamara war nicht dumm.
Sie wusste von den Möglichkeiten, die es gab. Sie wusste von den Wegen, über die man sich hinterrücks eine Nachdosis der Droge holen konnte, nach der sie sich verzehrte.

Und sie wusste, dass diese Wege verboten waren, weshalb sie sich von ihnen fernhielt.
Denn Tamara war ein braves Mädchen, immer ein braves Mädchen gewesen. Bis auf diese Aussetzer, die zu vergessen, sie sich stets bemühte.

Zudem schien die Prozedur schwierig, und nicht nur dies. Schwierig und gefährlich.

Und im Grunde, allen rationalen Überlegungen zufolge auch der Mühe nicht wert.
Dennoch konnte Tamara nicht anders.

Zu unerträglich war ihr das Bewusstsein, dass irgendwo da draußen die Erfüllung ihrer Sehnsüchte auf sie wartete, die Auflösung, auch wenn sie nur vorläufig sein konnte, der Handlungsstränge, die sich von Woche zu Woche erneut zuspitzten, bis sie endgültig und in einem hoffentlich überwältigenden Finale zusammenliefen.
Dem Finale der Staffel. Denn wenn alles gut verlief, so handelte es sich hierbei nicht um das Ende, sondern um den Anfang. Den Anfang einer neuen Staffel, bis zu deren Beginn eine schier unerträgliche Zeitspanne überstanden werden musste.
Doch in diesem Fall gab es kein Entkommen, keine Rettung aus der Wartehölle. Sie alle mussten warten, jeder einzelne, jeder, der sich nach neuem Stoff, den nur diese eine Serie ihm bieten konnte, verzehrte.

Es spielte keine Rolle, in welchem Teil der Welt, auf welchem Kontinent sie sich aufhielten, wieweit die Anhänger im Geiste über die Länder dieser Erde verstreut waren. Sie alle konnten nur rätseln, sich austauschen, und so gut wie möglich versuchen, die unerträgliche Frist zu überbrücken.

Denn die Folgen, auf die sie alle so sehnsüchtig warteten, existierten noch nicht. Es gab sie noch nicht. Sie mussten erst hergestellt, produziert werden.

Insofern handelte es sich um ein anderes Warten, als das unerträgliche Ausharren bis die Serie den Weg in Tamaras Land zurückgelegt hatte.
Als die Qual zu wissen, dass viele, so viele Menschen bereits das Glück genießen durften, dass deren Erwartungen bereits erfüllt wurden, während sie nach ihrer Erfüllung hungerte.

War es da ein Wunder, dass sie sich entschied, der Unerträglichkeit ihrer Situation entgegenzutreten?
War es ein Wunder, dass sie schwach wurde, dass sie mit der Sünde begann, der Versuchung nach gab, und sich das holte, was sie brauchte, sobald sie es konnte?

Nein – nicht immer. Selten – wahrlich, nur wenn es unbedingt nottat. Und jedesmal, trotz des Schauers des Verbotenen, der sie während der Tat schüttelte, besaß ihr Vorgehen doch den Hauch der Verzweiflung, die Überzeugung, dass es nicht anders ginge, dass sie es tun musste, dass es das Risiko wert wäre.

Selbst wenn man sie abführte, selbst wenn Bewaffnete, Uniformierte, Söldnertruppen ihr Zimmer stürmen sollten, ihr den geliebten Computer entreißen, ihr die Strafe entgegen brüllten, die sie nur allzu sehr verdiente. Selbst dann wäre es das wert, wert, die Serie gesehen zu haben, wert zu wissen, was geschehen ist, die neuesten Entwicklungen aus erster Hand erlebt zu haben.

Es war wunderbar, es gab nichts Besseres.

Und doch war sie zu weit gegangen, war Tamara an diesem Tage zu weit gegangen.
Nicht für sich, nicht für ihre Leidenschaft, für ihre Serie, um die Ungeduld zu stillen, die in ihr brannte, sondern für ihren kleinen Neffen, den Jungen, der ihrem Herzen am nächsten stand, dessen kindliches Gemüt ihrer im Kindesalter stehengebliebenen Entwicklung noch am ehesten entsprach.

Mit ihm verstand sie sich auf einer Ebene, die sie mit niemandem sonst teilen konnte. Mit niemandem in ihrem Leben, mit niemandem, der real war.

Und so war es auch die Welt des Irrealen, die sie mit ihm verband.
Eine Welt der Phantasie, des Traumes, die sie zumindest teilweise teilten.

Nur dass sich diese Welt in Kleinigkeiten unterschied. Nur dass ihre Welt von Kriminalfällen und Actionsequenzen handelte, vielleicht von Liebe und Romantik, die seine jedoch aus Animationen bestand.

Traumwelten waren beide, Wege um aus der Realität zu entkommen.

Und gerade weil sie sich beide in diesem Punkt einig waren, gerade weil sich ihre Gedanken, ihre Träume und Wünsche auf dieser Ebene überschnitten, verstand Tamara auch, warum ihr Neffe ausgerechnet diesen Film haben wollte. Diesen Film, der im Fernsehen gelaufen war, den sie nur hätte aufzeichnen müssen.

Doch sie versäumte es, und so blieb ihr nur noch dieser Weg, nur noch der Weg in die Illegalität. Sie musste es tun, sie hatte es versprochen, hatte ihm versprochen, dass sie ihm alle Filme besorgen konnte.

Und nur aus diesem Grund hatte sie sich an jenem Nachmittag hingesetzt, und nach den Möglichkeiten gesucht, die sich ihr boten.
Und dann hatte sie es getan, hatte ihn gefunden, hatte ihn angeklickt.

Und sie hatte nicht aufgehört, nicht gestoppt, auch als die Warnzeichen aufleuchteten.
Auch nicht als der Computer abstürzte, wieder und wieder.

Die Wunder der Technik erlaubten es ihr, erneut den Faden aufzunehmen, dort wo sie ihn verloren hatte.
Die Wunder der Technik erlaubten es ihr, weiterzumachen, weiterzusuchen, während die Räder mahlten und mahlten.


Und sie hörte nicht auf, als die Warnung aufblitzte, ein gelbes Dreieck. Es erzählte ihr davon, dass jemand – eine unbekannte Person dabei war, sie aufzuspüren, sie zu lokalisieren.

Doch das reichte ihr nicht, so wie es damals gereicht hatte, als sie einfach den Computer ausschaltete, in Panik, aus Vorsicht und Vernunft.

Nein – sie kannte das Zeichen, und sie war der Abstürze müde, des erneuten Einwählens, der wiederholten Anstrengungen für diesen Film, für ihren Neffen.

Deshalb hielt sie durch. Sie wechselte lediglich die Seite, jedoch sie lud weiter, und lud und lud. Beobachtete den Balken, der sich langsam aber stetig füllte.

So nah am Ziel, so nah daran, ihrem Neffen diesen Wunsch zu erfüllen.

Sie konnte es kaum glauben.
Und dann war es vorbei, sie hatte den Film.

Und sie wurde übermütig, suchte weiter, blieb online, obwohl ihr alle Instinkte dazu rieten, sich auszuloggen, zu flüchten, ein Versteck zu suchen.
Sie tat es nicht, starrte auf den Monitor, gab Suchanfragen ein, beseelt von dem Gedanken mehr und mehr aufzuspüren, zu suchen, zu finden, zu besitzen.

Die reine Gier erfasste Tamara. Sie konnte sich nicht mehr stoppen. Der Animationsfilm reichte ihr nicht. Das Serienfinale, das sie glücklich machen sollte, bis zum Beginn der neuen Staffel, reichte ihr nicht.

Sie brauchte mehr, wollte mehr.

Und die Auswahl war schier unbegrenzt. Ihr Blick weitete sich mit jeder neuen Seite, mit jedem neuen Aspekt, der sich ihr auftat.

Sie konnte alles haben, Western, Horror, Liebe, Komödie, Drama. Alles stand ihr offen.
Und sie klickte sich weiter, sie reiste durch die virtuellen Welten auf der Suche nach mehr, auf der Suche nach ihrer Droge. Sie wollte alles sehen, jeden Krimi, jede Tragödie. Sie wollte alles erfahren, jeden Schmerz, jedes Lachen, jede Emotion aus einer Welt, die ihr in den Schoß fallen sollte, wenn sie nur wagte, wenn sie es nur tat.

Und so tat sie es. Sie wählte. Sie nahm alles. Sie klickte auf Vampire, auf Werwölfe, auf Geister. Auf Herzschmerz, Sehnsüchte und Leidenschaften. Auf Spannung, Exotik oder Tränen.
Sie klickte weiter und weiter. Balken um Balken tauchte vor ihr auf. Balken um Balken begann sich zu füllen.
Und sie konnte nur an eines denken, an mehr, an alles. Wieso sich zurücknehmen. Hatte sie sich doch ihr ganzes Leben zurückgenommen. Wieso sollte sie es immer noch tun, immer noch zurückstecken, sich klein machen.

Jetzt nicht mehr, nicht in ihrem Zimmer, nicht in ihrem Reich.

Das gelbe Dreieck blinkte, doch sie ignorierte es. Der Computer stand auf ihrer Seite, er stürzte nicht ab, die Elektronik arbeitete mit ihr.
Gelbes Blitzen, Warnungen, die sie nur am Rande wahrnahm, die sie nicht wahrnehmen wollte.

Und dann polterte es gegen ihre Tür. Und das Poltern wurde stärker.
Tamara zuckte zusammen. Doch sie konnte nicht aufhören. Ihre Finger flogen über die Tastatur, ihr Körper beugte sich vorwärts, kam dem Bildschirm näher und näher, als sauge dieser sie ein.

Beschlagene Stiefel traten gegen die Wände. Heisere Stimmen brüllten Kommandos. Jetzt würde es passieren. Jetzt landete sie im Gefängnis, jetzt empfing sie die Strafe für ihre Untaten.

Tamara beugte sich weiter nach vorne.

„Bitte“, flüsterte sie. „Bitte – holt mich.“

Und sie wurde geholt. Sie rutschte, floss, strömte in das vibrierende, kalte Licht des Monitors. Sie löste sich auf, verschwamm mit Balken, Daten, Pixeln. Sie reiste auf elektronischen Wellen, surfte durch digitale Welten, verschmolz mit der Welt, nach der sie sich immer gesehnt hatte.

Und sie seufzte auf, zufrieden, wenn nicht gar glücklich.

Und sie seufzte immer noch, als sie die Tür einbrachen, als sie ihre schlaffe Gestalt vom Rechner wegzerrten, als sie sie fortbrachten, in eine Welt, die so ganz anders war, als die, welche sie sich erträumt hat.
Doch zumindest war sie anders. Anders als alles, was sie bisher erlebt und erlitten hatte.

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