Titel: Lagerhalle
Autor: callisto24
Ich wollte ihr den Geburtstagstisch schmücken. Das tue ich gerne, sehr gerne. Ich schmücke, dekoriere, verziere eine kalte, nackte Oberfläche mit filigranen Kleinigkeiten, die das Auge verwöhnen, wenn auch keinen durchschaubaren Sinn und Zweck erfüllen.
Doch stellte sich die Aufgabe der Dekoration dieses Mal als weitaus schwieriger dar, als ich sie in Erinnerung hatte.
Das lag nicht nur daran, dass ich mich im Traumzustand befand, sondern auch daran, dass mir in eben jenem Zustand die Mittel ausgingen.
Ich fand keine Papierherzen, keine glänzenden Schmucksteine, keine Luftschlangen, Karten oder Teelichter. Nichts davon.
Und gerade als ich begann zu verzweifeln, öffnete sich die Lagerhalle vor mir und ich tauchte ein in deren Kühle. Dort, in der Abgeschiedenheit eines Raumes, dessen Funktion lediglich darin bestand unnötige Gegenstände zu horten, sollte ich finden, wonach mir das Herz stand.
Geduldig schritt ich an den Regalreihen entlang, langsam und sorgfältig abschätzend wo sich finden ließe, was ich suchte. Doch je weiter ich mich in die Tiefe der Halle hinein bewegte, umso erfolgloser erschien mir mein Bemühen. Jeden Schritt begleiteten neue Enttäuschungen, jede Bewegung führte mich tiefer in drohende Dunkelheit.
Denn besaß ich zu Beginn noch einen guten Blick auf die Innereien des Gebäudes, so versickerte die Helligkeit, die mich begleitete, je weiter ich vorwärts drang.
Und ich fand immer noch nicht, was ich suchte. Meine Ansprüche sanken. Ich verlangte nicht mehr den überwältigenden Glanz des ersten Anblickes meiner Dekorationskunst. Ich verlangte nicht mehr, dass der erste Eindruck dem Betrachter zwangsläufig ein breites Lächeln entlocken sollte, wenn nicht gar das Strahlen, das dem Geburtstagskind angemessen wäre.
Ich verlangte nicht mehr, dass sich mir unvermutet eine Überraschung offenbarte, die mir mit ihrer Schönheit selbst den Atem raubte.
Ich wäre zufrieden mit einer Kerze, mit ein wenig Schmuck, der Chance darauf, dass es mir gelänge, den trostlosen Anblick eines leeren Tisches wenn auch nur um ein Weniges zu mildern.
Doch nicht einmal diese war mir vergönnte. Statt Kerzen, anstelle von wenigstens Teelichtern, die mit ihrem silbernen Rand doch ein wenig zur Zierde beitrügen, fand ich nur Staub.
Und je weiter ich lief, desto tiefer versickerte ich im Staub der Halle. Ich atmete ihn ein, er umgab mich, drohte mich zu verschlucken.
Doch ich konnte nicht aufgeben, niemals aufgeben. Der Gedanke an die Rettung der Schönheit hielt mich wach, hielt mich aufrecht, hielt mich in Bewegung.
Meine Ansprüche sanken tiefer, als ich es jemals für möglich gehalten hätte.
Meine Ansprüche befanden sich im Keller eines Kellers.
Aber ich lief weiter, suchte weiter, ließ mich nicht entmutigen.
Die Herausforderung wollte angenommen werden, und ich war bereit, sie anzunehmen.
Ich begann zu husten, als die Welt sich in eintöniges Grau verwandelte, verschluckte mich und keuchte, während ich mich weiter vorwärts kämpfte.
Die Halle – sie nahm kein Ende. Je weiter ich ging, desto tiefer erstreckte sie sich in die Ferne. Ich konnte weder ein Ende erkennen, noch die Wände an ihren Seiten. Links und rechts von mir ragten Regale auf, in denen sich unförmige Nichtigkeiten befanden. Schäbige Blumentöpfe, staubige und zerbrochene Teller, Tassen und Schüsseln, Überbleibsel aus einer Zeit der Zerstörung, für die es keine Erklärung gab.
Niemand dürfte hier unten gewesen sein, niemand für eine sehr lange Zeit. Keine Notwendigkeit existierte dafür, sich soweit vorzuwagen, in ein Gebäude in dessen Inneren nichts aufzufinden war, was für irgendjemanden, irgendwann jemals von Bedeutung gewesen war. Ein Abstellraum, eine Rumpelkammer von überdimensionalen Ausmaßen, und für einen Augenblick wusste ich auch nicht, was ich dort verloren hatte, was der Sinn und Zweck meines Unterfangens war.
Den Gedanken daran, die Schönheit zu bewahren, hatte ich bereits aufgegeben. Er führte nicht weiter, enthielt weniger Substanz als die Farben eines Sonnenunterganges. Warum sich das menschliche Herz daran klammerte, blieb ein Rätsel. Warum in einer Welt wie dieser die Schönheit zu bewahren suchen? Oder noch weitaus unsinniger – sich bemühen, eben jene Schönheit erst zu erschaffen.
Dennoch konnte ich nicht davon lassen. Ich schluckte Staub, hustete Staub. Ich stolperte, griff in Watte und schrammte mir am Regal die Handinnenflächen auf.
Inzwischen sandte der Staub ein milchiges Licht aus, das die Trostlosigkeit der Umgebung nur verstärkte.
Ich gab auf, oder ich stand kurz davor, endgültig aufzugeben.
Als ich sie sah. Die einzige, langstielige Kerze, befestigt auf einem ausladenden Teller, dessen Griff dazu einlud, ihn mit sich zu nehmen und die Welt mit der Kerzenflamme zu erleuchten.
Ich streckte die Hand nach der Kerze aus, zögerte einen Augenblick. Sie war die einzige, wahrhaftig die einzige Kerze, und der einzige Gegenstand, der wenn auch nur entfernt, an Tischschmuck erinnerte.
Und als ich die Kerze berührte, meine Finger ihre Staubschicht durchdrangen, da fühlte ich den Sog, der unter mir entstand. Ein Sog, der mich tief in seinen Schlund zog, dem ich nicht entweichen konnte.
Ich wollte schreien, doch es gelang mir nicht. Ich wollte mich wehren, mich festklammern an der spärlichen Sicherheit, die sich mir bot.
Doch ich war in einer Lagehalle. Hier existierte keine Sicherheit. Keine Griffe, an denen ich mich halten konnte, kein Anker, der mich in der Wirklichkeit hielt. Die Welt bestand nur noch aus Staub, und wohin ich in meiner Verzweiflung auch griff – alles zerfiel, rieselte unter meinen Händen hinab und wurde in die Tiefe gesaugt. Ebenso wie ich. Ich taumelte, wirbelte, rutschte. Und trotz allem hielt ich die Kerze. Ich verlor sie nicht. Meine Finger weigerten sich loszulassen, sich auch nur zu lockern.
Und so fiel ich umgeben von Asche und dem Staub, der diese Asche umgab in die Tiefe, wo mir endlich – endlich die Kerze entglitt.
Und in diesem Augenblick stoppte mein Fall. In diesem Augenblick kam ich hart auf dem Boden auf. Doch zuvor noch vernahmen meine schmerzenden Ohren das Klirren des stürzenden Kerzenständers.
Und erst als ich meine Augen zögernd wieder öffnete, erblickte ich die Veränderung um mich. Der Sturm, der mich umgab, hatte sich gelegt. Der Sturm, der mich umweht hatte, bestand nur noch aus einem lauen Lüftchen.
Und die Dunkelheit wich einem milchigem Licht. Direkt vor mir, schlicht und einfach, stand der Kerzenständer.
Doch sah er nicht mehr aus wie zuvor. Als wäre er durch einen metallenen Regen getaucht, so schimmerte er nun in silbernem Glanz, versprühte perlmutternen Zauber.
Und auf dem Teller lagen silberne Kugeln. Keine vollständigen Kugeln. Nein, zerbrochene, zarte Gebilde, Hälften oder Splitter aus Christbaumschmuck, gedacht für eine Zeit des Winters und des Friedens, katapultiert trotz allem in einen Kerker unter einer Lagerhalle, zu einer Zeit, die weder an Winter noch an Weihnachten erinnerten.
Und diese glimmernden Christbaumkugeln zerflossen auf dem Teller, erstarrten während des Prozesses des Schmelzens, bis nur noch Teile ihrer vergänglichen Zierlichkeit fragil, zart und gleichzeitig beschädigt, zerstört hervortraten.
Über dem einzigartigen Gebilde gefrorener Bewegung flackerte die auf magische Weise entzündete Kerzenflamme, verlieh dem schrägen Ambiente den merkwürdigen Anschein von Gemütlichkeit, der in Widerspruch zu dem kühlen Glanz des Silbers stand.
Ich wagte mich näher. Fein und zart wirkte die Gestaltung, perfekt in all ihrer Fehlerhaftigkeit. Eine der Kugeln war bereits keine Kugel mehr, sie sah aus wie eine Birne, lief nach oben hin schmal zu, und kam mir in dem Augenblick, in dem ich sie bemerkte wie ein zweifelsfrei einzuordnender Hinweis aus der Richtung göttlicher Gefilde vor.
Birnen waren die Lieblingsfrüchte meiner Mutter. Mit einem Kerzenständer, der sie an diese Liebste all ihrer Früchte erinnerte, konnte ein Geburtstagstisch nur ein Erfolg werden, eine Überraschung, eine Erfüllung all ihrer Geburtstagsträume.
Ein helles Klingen ertönte, und erst als ich es in meiner Kehle vibrieren fühlte, wurde mir klar, dass es sich um mein eigenes Lachen handelte.
Ich hatte den Schmuck gefunden, den ich gesucht hatte. Und ich griff zu, während mich noch in diesem Augenblick der Wirbel erneut erfasste, in die Höhe warf, durch das Lagerhaus schleuderte, in die Lüfte trieb, wie eine Schneeflocke hinauf und wieder hinunter lenkte, bis ich immer noch mit der Kerze, mit dem Kerzenständer in festem Griff, direkt vor dem Tisch landete. Dieser war bereits mit weißer Seide bedeckt und fing die Kerze sanft aus ihrem Fall.
Wie durch ein Wunder hatte sie nicht damit innegehalten zu brennen, brannte weiter, ohne die Höhe des Wachses zu vermindern.
Sie war wunderschön. Aus der Luft fing ich ein goldenes Band und wand es um den Teller, den Ständer, um die weiße Kerze und führte es über den glänzend bekleideten Tisch.
Die Dekoration blieb einzigartig.
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