Freitag, 10. Juli 2009

Stiefvater/Anita

Titel : Stiefvater
Autor: callisto24




Anita drehte die Kappe in den Händen. Eigentlich handelte es sich nicht einmal um eine Kappe, auch wenn diese Assoziation Anita einfach nicht aus dem Kopf gehen wollte.
In Wirklichkeit war es ein Hut, ein hübscher, klug entworfener Hut im Stil der Zwanziger, vielleicht der Dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Er passte perfekt zu der Frisur, die Anita im Augenblick trug, zu den gedrehten Locken, die sich leicht in die Stirn ringelten, jedoch im Grunde fest um ihr Gesicht anlagen, als bildeten sie selbst eine Kappe für sich.
Anita liebte die Frisuren und die Mode aus dieser Zeit. Der Schnitt der Kleidung kam ihrer Figur entgegen, an die sie sich gerade erst zu gewöhnen begann.
Diäten fielen ihr nie schwer, aber da sie sich dieser Mühe bereits seit geraumer Zeit nicht mehr unterzogen hatte, war auch ihr Vertrauen in die doch bereits wiederholt erprobte Willenskraft geschwunden.
Dennoch hatte es funktioniert. Ihr Körper war schlank und das Hochzeitskleid, das sie sich ausgesucht hatte, kam ihrer Erscheinung nur allzu sehr entgegen.
Wenngleich Hochzeitskleid der falsche Ausdruck war für den schmalen weißen Rock und das helle Hemd mit Spitzen, einer Kleidung, die vielleicht ein wenig zu fein für den Alltag wirkte, doch auch nicht gerade an Heirat erinnerte.
Bis sie diese Kappe aufsetzte, diesen Hut. Und vielleicht zögerte Anita daher. Mit diesem Hut kam sie sich verkleidet vor, erinnerte sich selbst vielleicht viel mehr an eine Braut, denn an eine Kostümparty.

Anita hatte nie verstanden, warum jemand in letzter Minute kalte Füße bekommen sollte. Und noch viel schlimmer – warum jemand so dreist sein sollte, eine Hochzeit in letzter Minute abzusagen, seinen Partner verletzte und die Gäste verstörte. Schließlich kam eine Heirat nie aus heiterem Himmel. Man besaß doch stets genug Zeit, um sich über Konsequenzen und Gefühle im Klaren zu werden.

Natürlich galt das nicht für sie selbst. In Anitas Fall war die Lage vollkommen anders. Anita hatte nie heiraten wollen.
Vielleicht als Kind, als kleines Mädchen, als sie noch nicht wusste, was das Wort bedeutete, als sie geglaubt hatte, bei einer Hochzeit handele es sich um ein unausweichliches Ereignis, ein Ritual, dem jedermann sich früher oder später unterwerfen sollte.

Und doch war sie schon damals aus dem Rahmen gefallen. Der klassische Schnitt eines Hochzeitskleides, der prinzessinnenhafte Look waren ihr nie genug gewesen.
Für sie musste es anders sein, moderner oder auch nur auffallender.
Einen Hut so groß wie ein Wagenrad hatte sie sich damals vorgestellt. Dazu ein schmales, schulterfreies Gewand, und wenn möglich nicht unbedingt in weiß.

Anita sah an sich hinunter. Eigentlich konnte es sich nur um einen schlechten Witz ihrerseits und auf ihre eigenen Kosten handeln, dass sie die Farbe weiß gewählt hatte.
Nicht nur, dass in ihrem Alter weiß lächerlich erschien, so befand sich doch unter den Gästen auch ihr bald erwachsener Sohn, sichtbarer Beweis für das Fehlen jeder Unschuld.
Dennoch fühlte sie sich bemüßigt, zumindest den Anschein von Tradition zu wahren. Ein wenig dem Klischee zu entsprechen, und sei es auch nur, weil der Zweck die Mittel heiligte.
Auf den Anschein kam es schließlich an, und der bittere Geschmack in Anitas Mund blieb das einzige äußerliche Anzeichen für die Fehlerhaftigkeit des Planes.
Wenn man Anitas zusammengesunkene Körperhaltung und ihre zögerlichen Bewegungen nicht dazuzählte.

Eigentlich wusste sie nicht, wie ihr geschah. Eigentlich war sie nicht einmal sicher, ob es funktionieren würde, und selbst wenn – wozu sie sich dieser Mühe unterzog.
Um die Sache in Ordnung zu bringen? Um Hilfestellung zu leisten in dem begrenzten Rahmen, der ihr zur Verfügung stand? Um den leichtesten Weg zu gehen – so wie sie es immer tat?
Oder um sich alle Möglichkeiten offen zu halten, und gleichzeitig doch ihren Status zu verändern. Aus Langeweile, aus Interesse oder aus der Lust daran, Neues auszuprobieren.

Je länger sie darüber nachdachte, jetzt – wo sie sich die Zeit nahm – in diesem Moment – vor der Institution, die ihre Daten aufnehmen würde und seine, die alles verkomplizieren würde, wo sie doch vereinfachen sollte – begann sie zu zweifeln, begann sich Fragen zu stellen.

Es war anders, als der im Heimlichen geträumte Traum einer praktikablen und formvollendeten Heirat als Mittel zum Zweck. Als der kurze, schmerzlose Prozess, den sie sich ausgemalt hatte.
Spätestens mit der Wahl ihrer Garderobe hätte es ihr auffallen sollen. Mit dem merkwürdigen Höherschlagen ihres Herzens bei dem Gedanken. Bei der Nervosität, die sie erfasste, den seltsamen Vorstellungen von Blütenträumen, glänzendem Stoff, fließendem Weiß.
Doch sie wollte es nicht wahr haben.
Das war sie nicht. Romantisch vielleicht, jedoch in den Bereichen, in denen Romantik Sinn ergab. Und ganz gewiss nicht, wenn es um zusammengeraffte Röcke, verstreute Rosenblätter oder klingende Gläser ging.
Ein Sonnenuntergang verströmte Romantik, eine Liebe, die nicht sein durfte, die errungen werden musste. Ein Lied vielleicht oder ein Geständnis, aber keine gekünstelte Ansammlung von jahrhundertelang erprobten Effekten. Und schon gar keine Wörter, die vor einem Gericht gesprochen wurde, das Unterschriften einsammelte, und Verbindungen festlegte, sowie es diese wieder auflösen konnte.

Umso erstaunlicher schien es ihr, dass sie diese Unternehmung nicht mit der notwendigen Kühle und dem innerlichen Abstand begegnen konnte, den sie verdiente.
Sie kannte den Mann gar nicht, hatte ihn nie zuvor gesehen, würde ihn wohl auch nie wieder sehen, wenn all dies vorbei war. Wer hätte auch gedacht, dass all dies so kompliziert wäre. Wenn es nur darum ginge, den Vater ihres Sohnes zu heiraten, so wie es ihr logisch und nachvollziehbar erschien, dann könnte sie es verstehen. Doch dieser Weg, um Ecken herum, indirekt und verschwommen, entsprach so gar nicht Anitas Natur.

Vielleicht lag auch darin der Grund dafür, dass sie sich nie die Mühe gemacht hatte, ausgiebig genug über ihre Handlung und deren Auswirkungen nachzudenken.
Es ging doch nur darum, dem Vater ihres Sohnes den Zugang zu seinem Kind zu ermöglichen. Solange dies nicht möglich war – nicht in dieser Welt, in diesem Staatenverbund möglich war – mussten Umwege gewählt und beschritten werden.

Und auf eine eigene, verworrene Art verstand Anita diese Vorgehensweise auch, selbst jetzt, selbst wenn ihr Vorsicht gebot innezuhalten, wenn ihr Verstand zum ersten Mal seit langem sich wieder in den Vordergrund drängte und Aufmerksamkeit verlangte.
Sie heiratete Illiyuri, um demjenigen einen Besuch bei seinem Sohn zu erlauben, der sein wirklicher Vater war.
Nicht ihre Idee, nicht ihr Einfall. Nein – die hilfreiche Verwandtschaft hatte zugegriffen, Initiative gezeigt, sobald der verlorene Vater seinen Kopf aus dem Sand gesteckt hatte.
Und obwohl Anita froh darüber war, dem Jungen seine Wurzeln zugänglich machen zu können, überrollten die Ereignisse sie doch zunehmend, und gerade in diesem Augenblick, in dieser Umgebung fühlte sie sich so verloren, wie schon lange nicht mehr.

Inwiefern sollte es ihr helfen, sollte es ihm helfen oder ihrem Sohne, wenn sie diese Papiere unterschrieb?
Ein Risiko war es, ein Risiko, das prickelte, tief in ihr prickelte.

Gesetze trennten Vater von Sohn, daher lag die Umgehung von Gesetzen auf der Hand. Damit hatte sie keine Probleme, keine Schuldgefühle.
Das Problem war die Verbindung, die sie einging, die Folgen, die sie nicht absehen konnte.

Aber nun war es zu spät. Ein Ausweg existierte nicht mehr. Nicht für sie. Die Gäste, die Beamten warteten.
Also setzte sie ihre Maske auf, empfing das gemurmelte „Es ist mir eine Ehre“ von Illiyuri mit einem Lächeln und einem harmlosen Scherz. Sie – die sich nur selten zu Körperkontakt oder zur Lockerheit hinreißen ließ, boxte ihm spielerisch in die Schulter, knüpfte ein Band, das letztlich nur für diese eine Aktion halten sollte.
Und er war nett, er wirkte nett, sah nett aus. Und wenn sie ehrlich war, sympathischer als die Erinnerung an den Vater, den sie suchte.

Die Hochzeit würde es ihm erleichtern, sein Leben auf lange Sicht verbessern. Und das, so wie man ihr versichert hatte, ohne auch nur die geringsten Ansprüche an sie. Warum also nicht?
Warum nicht den Tag nehmen, wie er sich bot? Warum nicht die Sache durchziehen und dann erst sehen, was passiert?

Anita nickte in sich hinein. Was hatte sie zu verlieren? Was konnte schlimmer werden?
Alles – aber das war egal, in diesem Augenblick egal.

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