Autor: callisto24
Titel: Rose
Als sie wuchs, wusste sie, was sie sein wollte. Sie wusste es genau. Eine Rose, eine der Königinnen unter den Blumen.
Sie spross in die Höhe. Ihr helles Grün vertiefte sich. Die Entscheidung stand kurz bevor.
Und doch – ebenso sicher, wie sie es seit ihres Schlummers in der Erde gewesen war, so wusste sie jetzt, dass sie diese Entscheidung noch nicht treffen konnte.
Der Möglichkeiten existierten so viele, zu viele. Allein in diesem Garten, in dem kleinen Garten, in dem sie aufwuchs.
Wie viele Möglichkeiten, wie viele Rosen musste es erst außerhalb dieses beengten Rahmens geben?
Zu welch einer sollte sie werden, wenn sie nicht einmal alle kannte, die auf dieser Welt existierten.
Vorsichtig zog sie ihre Wurzeln aus der Erde. Es war zu früh, sich festzulegen, zu früh für Endgültiges. Ihr Weg hatte gerade erst begonnen, und sie würde nicht ruhen, bis sie die Rose entdeckt hatte, zu der sie werden sollte.
Ihre Bestimmung – sie war sich sicher, dass diese auf sie wartete, irgendwo dort draußen.
Und so begann sie ihre Wanderung. Schritt für Schritt bewegte sie sich vorwärts, langsam und mühselig war die Reise, konnte nicht anders sein für eine Pflanze wie sie.
Sie sah viele Blumen, schöne Blüten, herrliche Blüten, doch keine ließ sie daran zweifeln, dass sie zur Königin geboren war.
Nur zu welcher? Die Schönste musste es sein, einzigartig, beglückend genug allein in ihrer Erscheinung, dass sie es ertragen konnte, bis an ihr Ende in dieser Gestalt zu verharren, zu welken, zu vergehen, nur noch eine Erinnerung zu bleiben an den Duft, den sie einst verströmt hatte.
Manchmal zweifelte sie. Manchmal hielt sie inne, wenn sie ein kleines Moosröschen erblickte, schüchtern und versteckt. Eine ruhige, friedliche, bescheidene Existenz. Schönheit im Kleinen, Zauber für Kinder. Sie liebte den hellen rosa Ton, den sie mit einem Röschen verknüpfte. Er erinnerte sie an Feen und Elfen aus einer anderen Welt, einer Welt aus der sie vielleicht stammte, und in die sie mit Sicherheit zurückkehren wollte.
Und doch war es nicht das Moosröschen, zu dem sie werden wollte. Zu klein, zu bescheiden, zu behutsam ausharrend im Verborgenen.
Das war nicht ihr Ding.
Deshalb wanderte sie weiter, vorbei an der Welt des Kindlichen.
Eine Teerose bezauberte sie. Eine Teerose bannte sie. Ein zartes Orange umschmeichelte ihre Sinne. Weiche Blütenblätter streiften sie zärtlich.
Sinnlicher Duft verführte sie, hielt sie fest, erweckte ihre Lebendigkeit, den Wunsch zu leben, zu erleben.
Sie verharrte. Sie blieb. Sie schwelgte in Teerosen, in jugendlicher Frische und Zartheit. Sie schwamm im Duft, schwebte in der Schönheit.
Doch etwas fehlte ihr. Die Teerose war nicht fertig, nicht vollständig, sie ließ etwas vermissen, das – obwohl sie es nicht greifen konnte – wichtig schien, wichtiger als Kindlichkeit und Jugend.
Sie wanderte weiter und traf auf eine Rose, deren Knospe halb geschlossen war, die beschlossen hatte, sich niemals zu öffnen. Sie barg ein Geheimnis, verbreitete Faszination, fesselte in ihrem gelben Schein, dem matten Licht, das sie verströmte.
Ewig hätte sie diese ansehen können, sich in dem Anblick, in dem Rätsel verlieren.
Doch sie wanderte weiter, bis sie auf eine wahre Königin traf, nein – auf eine Kaiserin.
Dunkelrot und voll erblüht schmiegten sich Blatt an Blatt, bildeten eine Krone, die reichhaltig das Innere, den Kern der Blüte umrandeten.
Ihr Duft betäubte sie, vollständig und ganz, verströmte Wissen, Erfahrung und zugleich Lebenslust.
Sie streichelte die Kaiserin, küsste ihre zarten Blätter, liebte den vollen Glanz, den samtenen Schimmer reichhaltigen Zaubers.
So wollte sie sein, so lautete ihre Entscheidung. Diese Rose sprach von Vollkommenheit, von Wundern und Träumen.
Es war die Rose ihrer Zeit.
Und es war an der Zeit. Sie war weit genug gewandert. Diese Rose wollte sie sein. Doch dann musste sie feststellen, dass sie es nicht konnte.
Sie versuchte es, und wie sehr sie es versuchte, aber sie konnte diese Rose nicht sein. Sie war nicht groß genug, nicht reichhaltig genug, nicht stark genug.
Und sie krümmte sich zusammen im Angesicht ihres Versagens, vertrocknete im Glanz einer Perfektion, die sie niemals erreichen würde.
„Ich wollte nur Königin sein“, flüsterte sie. „Nur eine von vielen. Wieso nur darf ich das nicht.“
Da neigte sich die dunkelrote Kaiserin zu ihr herab.
„Sieh dich an“, wisperte sie und ihre Stimme klang wie eine Glocke.
„Sieh dich an, wer du bist.“
Und sie sah sich an, und erblickte eine vertrocknete Blüte, starr und fest in der Zeit stehengeblieben, von einer Farbe, die zarter und zugleich beständiger war, als jede, die sie bislang betrachten durfte.
Und ihr Duft war von einer Süße, die die Welt in Atem hielt, die Pflanzen um sie dazu brachte, sich vor ihr zu verneigen.
„Du bist schön, Großmutter“, sagten sie.
Und die Rose lächelte.
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