Sonntag, 19. Juli 2009

Sommer

Titel: Sommer
Autor: callisto24

Dies ist keine Weihnachtsgeschichte. Eigentlich wollte ich eine schreiben, aber die Mächte des Schicksals lenkten anders. Genauer gesagt lenkten sie mich mitten in die Hitze des Sommers, in die Erinnerung an sommerliche, bedrückend schwüle und unangenehm grelle Tage. Nicht, dass ich dem Sommer den Vorzug gegenüber dem Winter gäbe. Ganz im Gegenteil. Vor die Wahl gestellt, entschiede ich mich in jedem Fall für eisige Kälte, für dunkle Abende, Nebel in den Straßen und Gassen, kurz gesagt für jene Temperaturen, die es dem Menschen ermöglichen, sich ohne Gewissensbisse zurückzuziehen in die Gemütlichkeit und den tröstenden Schutz der eigenen vier Wände.
Das Bedürfnis nach Rückzug bleibt über das gesamte Jahr konstant, daran lässt sich nichts rütteln.
Aber es macht einen Unterschied, ob das Zimmer oder die Wohnung zur künstlichen Höhle umfunktioniert wird, ob die Fenster verhängt, die Rollläden geschlossen und das elektrische Licht für die notwendige Beleuchtung sorgen muss, während man sich leise zusammenkauert, verzweifelt hoffend, dass niemand die Anwesenheit eines Menschen im Inneren des Hauses bemerkt. Die peinliche Anwesenheit desjenigen, der trotz lachender Sonne und verlockend blauem Himmel nichts finden kann, das ihn hinaus lockt. Der keinen Grund sieht, seine vier Wände zu verlassen.
Im Gegenteil, der froh ist, glücklich und erleichtert, nach getaner Arbeit in die schützende Höhle zurückkriechen zu können, aus der man sich in der Früh nur unter allergrößter Selbstdisziplin überwinden konnte, zu weichen.

Anders als zu den Zeiten, während derer jedermann Zuflucht sucht, niemand freiwillig außerhalb der warmen Sicherheit eines Gebäudes verbleiben möchte.
Eben zu jenen Zeiten, in denen unangenehme Regengüsse oder schmerzende Eiseskälte davon abraten vor die Tür zu gehen, zumindest ohne sich vorher in mehrere Hüllen wind- und wetterabweisender Stoffe gewickelt zu haben.

Dann verkriecht sich jeder, und es fällt nicht auf, wenn der erleichterte Seufzer, der den eigenen Lippen entflieht, für andere Ohren vernehmbar wird. Schön ist es, tröstlich, in die Höhle zurück zu krabbeln, die vielleicht – wenn man so will – ein wenig zu sehr an den Uterus erinnert, und doch nichts anderes ist, als notwendige Maßnahme zur Selbsterhaltung.

Im Sommer dagegen fällt es auf. Wenn sich die Tage ausdehnen, wenn das Licht schier unendlich lange diese hässliche Welt erhellt, lange genug, dass man fürchten könnte, die Helligkeit höre niemals auf.
Wenn der Zeitraum bis Stille einkehrt in der Welt größer und größer wird, solange bis man glaubt, dass er niemals einträfe.
Wenn klingende Gläser und lachende Stimmen bis tief in die Nacht Anzeichen für das sprühende Leben sind, das außerhalb der eigenen Welt stattfindet.
Wenn jeder, aber auch jeder glücklich ist, nur man selbst sich unglücklicher fühlt als je zuvor.

Dann sehnt man sich auch im Sommer nach den Tagen des Winters, nach der Kälte, die den Drang verschleiert, sich zurückzuziehen, zu verstecken, für sich zu sein, alleine, in der einzigen Gesellschaft, die wenn auch manchmal schwierig, dann doch zu ertragen ist.
Bemitleidenswert im Sommer, im Winter ein Segen. In Zeiten, in denen Menschen darüber klagen, dass ihnen die Decke auf den Kopf stürzt, in der sie sich hinaus sehnen in die Weite, die Wärme und die Freiheit der Welt, handelt es sich durchaus um einen Vorteil, kann man selbst es ertragen für sich zu sein, und dies eher noch als das Zusammensein mit anderen.

So besitzt alles mindestens zwei Seiten, und wenn eine davon erschreckend aussieht, so wirkt die andere vielleicht glücksversprechend.

So rette ich, so retten Menschen wie ich, uns über die Phasen des Unglücks, des Leides, indem wir träumen von besseren Zeiten, indem wir im Sommer beginnen vom Winter zu träumen.
Von der Kälte, der Geborgenheit, dem dunklen Samt, der die Welt umschließt, wenn Dunkelheit hereinbricht. Von der weißen Decke, die sich als Schnee herabsenkt, die Laute störenden Lebens dämpft und verstummen lässt.

Es hilft daran zu denken, wenn der Schweiß den Körper hinabfließt. Es hilft an den Höhepunkt der kalten, dunklen Jahreszeit zu denken, sich diesen auszumalen, in detailgetreuer Genauigkeit.
Gerade wenn die Luft unerträglich scheint, wenn die Hitze kein Entkommen bietet, wenn allein der Gedanke an eine Kerze unnötiges Stöhnen hervorruft, hilft die Vorstellung vom adventlich geschmückten Heim als Zuflucht, vom Duft nach Zimt und Koriander, von Kerzen, die notwendige Wärme spenden, die Halt und Mittelpunkt versprechen, die Illusion einer Lebendigkeit, wo keine ist, einer Gesellschaft, wo keine existiert.
Vielleicht besteht auch hierin ein leiser Trost, in der Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, die doch allein durch ihre Anwesenheit den Hauch eines Glücksgefühls zu erwecken vermag.
Ein Anker, an den sich zu halten, das Überleben sichert.

Und so war es auch in diesem Sommer.
Drückende Hitze stand in den Straßen. Unbezwingbar grelles Licht blendete, verletzte empfindliche Augen. Haut brannte, setzte man sie den Sonnenstrahlen aus.
Es gab kein Entrinnen. Die Hitze steckte zwischen den Wänden, ebenso wie sie außerhalb derselben flimmerte.
Ob es die Flucht nach vorne war, oder die Ausweglosigkeit meiner Lage, die mich vorwärtstrieb, lässt sich heute nicht mehr sagen.
Und doch handelte ich entgegen meines innersten Instinktes und gab mein Versteck auf, wagte mich trotz all meiner üblichen, gottgegebenen Voraussicht hinaus ins feindliche Umfeld.
Denn dass es feindlich sein sollte, daran gab es keinen Zweifel. Jahrzehnte schmerzhafter Erfahrung hatten mich dieses gelehrt.
Sich in der Hitze nach draußen zu begeben, dem Sommer von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen, ging nie gut aus, endete in einer hastigen Flucht, die erst ihr Ende fand, wenn ich in der Lage war, die Tür hinter mir zu schließen, mich zurück zu begeben in selige Abgeschiedenheit.
Doch wäre ich nicht ich, wenn ich aus meinen Fehlern lernte. Und so floh ich den eigenen vier Wänden, und lief unnötigerweise durch die heißen Straßen auf der Suche nach einem Ausweg, nach Erleichterung, nach einer Möglichkeit, wenn schon nicht dem Sommer zu entkommen, dann doch wenigstens die Gedanken auf ein anderes Thema zu lenken, Abwechslung zu suchen, wenn Abwechslung zu finden war.
Die Gedanken binden, sie zu fesseln an neue, an fremdartige Eindrücke, welche die Schwierigkeiten Atem zu holen vergessen ließen, den Schweiß, der die Haut herabrann, in die Augen tropfte, oder auch den Wunsch sich vor der viel zu hellen, viel zu deutlich sichtbaren Welt zu verstecken.
Es musste doch möglich sein, Vorteile zu entdecken an einer Jahreszeit wie dieser, Vorteile, die sich in der kalten, dunklen Jahreszeit nicht finden ließen.
Denn trotz allem Schönen, das der Winter uns schenkt, so bleibt doch der Verlust der äußerlichen Zeichen des blühenden Lebens. Blätter und Blumen ersterben, versinken in einen teilnahmslosen Grau, während Ödnis und Niemandsland um sich greifen.
Zu leicht vergessen sind die Augenblicke der Erkenntnis eines solchen Verlustes, und umso schmerzhafter wirken sie im Angesicht der schwindenden Dekorationen, die dem Lichterfest seinen Zauber verleihen.
Warum also nicht Ausschau halten nach den Gewächsen, die dem Sommer seine Farbe verleihen. Einen Versuch wenigstens und wenn schon nicht mehr unternehmen, die Sinne mit Düften und Glanz zu erfüllen, bevor die Furcht vor einem verfolgenden Insekt, vor einem strengen oder gar verurteilenden Blick den mutigen Abenteurer wieder zurücktreibt in die sterile Umgebung, in die er gehört.
So war der Plan. Bilder im Gedächtnis speichern, bis die Kräfte sich aufbrauchten, bis der lediglich im eigenen Kopf existierende, doch gerade daher besonders zerstörerische Eindruck der eigenen Person, wie sie ungelenk und unförmig, falsch gekleidet, falsch frisiert, falsch in jedem nur erdenklichen Sinne, alles andere auslöscht.

Zumindest einmal sollte dieser Versuch unternommen werden, einmal in jedem Jahr, auf freiwilliger Basis.
Und ich unternahm diesen Versuch.
Ein Brunnen war es, der mich magisch anzog. Denn ist es nicht so, dass Wasser im Sommer sich in seiner Bedeutung vervielfacht?
Jede Art von Wasser gilt als perfektes Ziel, erleichtert den Druck der Jahreszeit, hilft geringfügig über die Qual.
Nur der Anblick bewirkt manchmal die Illusion eines frischen Lüftchens, vielleicht nur den Anschein einer Erleichterung. Und doch ausreichend für den einen Moment, auf den es ankommt, der sich in die Erinnerung einbrennt.
Selbst dann, wenn sich das Wasser nicht berühren lässt, wenn es nicht kühlt, zu weit entfernt ist, als dass es zur momentanen Entspannung des gequälten Körpers helfen könnte.
Und so ließ ich mich am Rande des Brunnens nieder, betrachtete den Wasserstrahl, der friedlich auf die Oberfläche fiel, diese aufwirbelte, in Bewegung versetzte und das Ohr mit plätschernden, gurgelnden Lauten verwöhnte.
Ich ließ es zu, dass die Sonne auf mich niederschien. Und ich ließ es zu, dass mein Körper sich zusätzlich zur Sommerhitze erwärmte, dass ich trotz der Ruhe, trotz des stillen Verharrens und trotz des Vorhandenseins der sprudelnden Flüssigkeit, fühlte, wie mein Inneres begann zu kochen.
Das Blut raste heiß durch meine Adern, das Wasser, das ich verlor, spürte ich als Verlust in der Trockenheit meines Mundes.
Ich schloss die Augen. Die Welt um mich herum nahm eine rötliche Färbung an, hellrot. Sie glühte.
Das war es, das war der Sommer. So musste er sein, so sollte er sein, und ich war endlich auch bereit, mich ihm auszusetzen.
Das Plätschern an meiner Seite erhielt untermalende Laute, erst leise, dann stetig an Lautstärke zunehmend. Ein Dröhnen war es, das ich vernahm, ein unangenehmes Dröhnen.
Ich schluckte, schluckte wieder und öffnete schließlich meine Augen.
Die Welt flimmerte immer noch in Rot. Jedoch nicht nur. Sie glitzerte zusätzlich, funkelte, als wäre sie übersät mit Hunderten von Sternen, die rastlos blinkten.
Und dann erklangen weitere Laute, die langsam aber sicher das Dröhnen einholten, ausschmückten und schließlich verdrängten.
Silberglocken, die leise in der Ferne ertönten. Silberglocken, deren sachtes Bimmeln so gar nicht, so überhaupt nicht an diesen Ort und in diese Zeit passten.
Silberglocken, deren sanfte Töne an Lautstärke gewannen mit jedem Atemzug, den ich tat.
Sie verdrängten das Dröhnen, das durch den Druck in meinem Kopf ersetzt wurde.
Ich fasste an meine Stirn, die sich zu meiner Verwunderung trocken anfühlte.
Das Wasser glitzerte vor mir. Es sprühte auf und nieder, zerstob in zahllosen Funken, regnete in Sternen hinab. Und da sah ich, dass diese Sterne es waren, die ihren Silberklang in die Welt schickten.
Sie rieselten hinab, und auf einmal waren es keine Sterne mehr, sondern Schneeflocken, winzige Kristalle, die in allen Farben des Regenbogens schimmerten und funkelten. Die sich drehten und tanzten, auf mich herabsanken, meine heiße, trockene Haut kühlten.

Und das Läuten verstärkte sich, das Klingeln erfasste meinen Kopf, versetzte meinen Körper in Schwingungen, bis jeder Nerv in mir sang.
Die weiße Schneedecke ließ jeden Ton außer dem Läuten der Glocken verstummen. Sie blendete weitere Empfindungen aus, betäubte die Sinne und beruhigte meinen Herzschlag, versetzte mich zurück in eine andere Zeit.
Nicht Sommer war es, nicht Hitze, nicht Schwüle, die über mir schwebte.
Schnee kühlte das Kochen meiner Gefühle und mein Schmerz gefror.
Engelsgeläut erfüllte meine Ohren.
Und dann kamen sie. Sie näherten sich, ich spürte sie.
Es rauschte, die Welt wurde zu einem einzigen Rausch und sie zog mich mit, wirbelte mich durch Zeiten, Emotionen und Vorstellungen, die über alles hinausgingen, was ich bislang erlebt hatte.
Flügel schlugen, entfachten ein Wehen, das mich fortzureißen drohte, von dem ich wünschte, dass es mich fortriss.
Und dann fühlte ich, wie kühle Arme mich umschlangen. Wie ich in die Höhe gerissen wurde und höher und höher flog. Getragen, sicher gehalten aus der Enge heraus schwebte. Fort von dem Druck, der Hitze, fort von diesem Sommer.

Hoch in die Lüfte trugen sie mich, und ich spürte wie der Schnee meinen Körper bedeckte. Ich seufzte, tanzte durch Wolken, die weich wie Watte meine Haut umschmeichelten.
Ich öffnete die Augen und erblickte den Silberglanz, erblickte die Glocken, erblickte die Engel, die mir zulächelten. Die mich befreit hatten, entführt in eine bessere, in eine schönere Welt.
Ich lächelte zurück. Über mir dehnte sich ein samtener Nachthimmel, geschmückt mit unzähligen Lichtern, bereit mich aufzunehmen. Er wartete auf mich, wartete, dass ich höher stieg, dass ich meiner Bestimmung folgte.
Und ich wünschte es mir so sehr, wollte es, sehnte mich danach. Ich löste mich von den Bändern, die mich in der Luft hielten. Ich versuchte den Himmel, die Seligkeit zu erreichen.
Doch dann fiel ich. Ich stürzte hinab. Ich streckte die Arme aus nach der tröstenden Dunkelheit über mir, doch ich fiel in die vernichtende Düsternis. Es gab kein Entrinnen von diesem Fall. Ich hatte versagt.
Es reichte nicht aus, meine Bemühungen waren nicht genug gewesen. Mein Leben zu arm, zu wenig, zu schwach. Ich hatte nicht gefunden, worauf es ankam, nicht entdeckt, worin der Sinn lag.

Und als ich aufwachte, im Bett des Krankenhauses, als ich die gemurmelten Worte kaum hören konnte - so sehr sehnten meine Ohren sich nach den silbernen Glocken - Worte vom Sonnenstich und Hitzschlag, von einer der weiteren Gefahren, die der Sommer mit sich brachte, da weinte ich aufgrund meines Verlustes.
So nah war ich gewesen, so nah.
Und so weit musste ich noch gehen, so weit. So viele Grenzen überschreiten, so viele Erkenntnisse gewinnen, so viel Leid ertragen, bis ich sie vielleicht – eines fernen Tages wieder hören konnte.

Keine Kommentare: